«Empires are made of Air»
Dramaturg Julien Enzanza über Sycorax im Zeitalter des Anthropozäns.
Ehemals von Sycorax vor dem Ertrinken gerettet, befindet sich Prospero, Sauerstoff in Kanistern einsammelnd, in den letzten Vorbereitungen, die von ihm ruinierte Insel mit seiner Tochter Miranda zu verlassen. Er verspricht ihr eine bessere Welt, eine Welt nach altem Recht, patriarchalem Recht, vermeintlich besser als jene, die sie von klein auf kannte. Kurz zuvor warf er aus Hochmut und sich seiner Abreise sicher den mit der Kraft der Insel versehenen Mantel ab.
Dies führt zu einem sich anbahnendem Sturm und dem Erwachen Sycorax‘. Sie wurde von dem Luftgeist Ariel, unter falschem Vorwand und im Autrag Prosperos, über zehn Jahre in einen komatösen Schlaf versetzt. Noch etwas desorientiert findet sie ihren Sohn, Caliban, vereinsamt an einem abgelegenen Teil der Insel vor und erfährt von dem Unrecht, das ihm durch die Hand Prosperos widerfahren ist. Schnell stellt sich heraus, wie Prospero durch das mehrfache Leugnen der Existenz und eigentlichen Geschichte Sycorax‘ sowohl Miranda, Caliban als auch Ariel ihres Realitätssinns beraubt hat. Mit der Rückkehr von Sycorax und der allmählichen Freisetzung der Luft kehren allerdings ihre geteilten Erinnerungen zurück, ihnen die Gelegenheit gebend, einen rücksichtvolleren Umgang mit sich und der Insel einzugehen.
Was heisst es, anzunehmen, dass die Natur dem Menschen als endlose Ressource zur Verfügung steht, ähnlich wie Prospero dies im Umgang mit der Insel wählt? Im unter anderem vom Naturwissenschaftler und Meteorologen Paul Crutzen 2002 angestossenen Anthropozän-Verständnis findet sich der Ansatz, dass der Mensch als geologische Kraft unwiederbringlich die natürliche Welt umgeformt und damit eine neue Epoche eingeleitet hat. Auf die Frage hin, wie die Menschheit an diesem Punkt angelangt ist, werden als wichtige Ursache die zur Erderwärmung führenden, seit der Industrialisierung im 18. Jahrhundert freigesetzten Kohlendioxid-Emissionen genannt.
Tiefergehende Beschäftigungen mit dem Anthropozän gehen auf die Verschränkung von Unterdrückungsformen wie Kolonialismus, Patriarchat und Kapitalismus ein. Sie werden in «The Rise of Cheap Nature» (2016) des Soziologen und Geografen Jason Moore auf eindrückliche Weise miteinander verknüpft. Moore macht deutlich, wie mit der Spaltung von Natur und Kultur ganze Landschaften und Personen, die in Widerspruch zu der westeuropäisch-zentrierten Vorstellung des vorgeblich zivilisierten «Anthropos» [altgr. für «Mensch»] gestanden haben, als vermeintliche, unbegrenzte Naturressource für Kapitalzwecke ausgebeutet wurden – dazu gehören die unbezahlte Arbeit von versklavten sowie indigenen Personen: «From the perspective of imperial administrators, merchants, planters and conquistadores, these humans were not Human at all. They were regarded as part of Nature, along with trees and soils and rivers – and treated accordingly.» («Aus der Perspektive von imperialen Verwaltern, Händlern, Plantagenbesitzern und Konquistadoren waren diese Menschen nicht menschlich. Sie wurden betrachtet als Teil der Natur, zusammen mit Bäumen und Böden und Flüssen – und entsprechend behandelt.»)
Zusätzlich zu dem Ausruf des Luftgeistes Ariel im Libretto von Harriet Scott Chessman «Empires are made of Air» und Jason Moores Artikel «The Rise of Cheap Nature» (2016) fragten wir uns: Welche könnte die ‹letzte› der Natur zugeschriebene Ressource sein, die in einer nahen dystopischen Zukunft für Kapitalzwecke augebeutet werden könnte? Sauerstoff! Sycorax spielt daher auf einer nicht näher bestimmten Insel, die als Kombination von technologisch anmutender Lunge, Oktopus und Feuerqualle ein Überleben in sauerstoffarmen Gebieten ermöglicht. Sie ist zu Beginn der Oper eingedreht und legt sich mit der Rückkehr von Sycorax und der sie umgebenden Luftgeister allmählich frei.
Auf die Frage hin, welche Formen des Heilens nach einer desaströsen Verlusterfahrung möglich sind, liegt das hoffnungsstiftende Versprechen Sycorax‘ in der Einsicht, sich von einer nationalstaatlich fixierten, von Macht und Wettbewerb getriebenen Allmachtsfantasie lösen zu können. Sycorax öffnet den Blick für die prekären Leben und Körper all derer, die als menschlich oder nicht menschlich markiert wurden – und damit auch ein Bewusstsein der Verantwortung für sie, sowie die Bereitschaft, ihnen gegenüber vulnerabel zu sein.