Im Rahmen des Seminars «Musiktheaterwissenschaft in der Praxis» von Prof. Dr. Lena van der Hoven an der Universität Bern beschäftigten sich Studierende mit der Produktion Guillaume Tell. Neben musikwissenschaftlichen Zugangsweisen erhielten die Studierenden die Möglichkeit, einen Einführungsvortrag bei Bühnen Bern zu halten sowie eine Kritik zu einer Aufführung zu schreiben. Nachfolgend die Kritik von Thomas Tschudin.
Mit Rossinis letzter Oper Guillaume Tell, die 1829 in Paris uraufgeführt wurde, haben sich Bühnen Bern an ein in Bern seit Jahrzehnten nicht mehr aufgeführtes Werk herangewagt. Die Inszenierung von Amélie Niermeyer versetzt das Publikum nicht etwa ins 13. Jahrhundert, sondern liess den «Schweizer Nationalhelden» die Freiheit im 21. Jahrhundert verteidigen – und trifft den Nerv der Zeit.
Wer kennt sie nicht, die Sage von Wilhelm Tell? Es ist eine Geschichte rund um einen Freiheitskampf, aber auch die Frage wie weit man für die Freiheit gehen kann. Gleichzeitig schwingt bei dieser «Urschweizer» Geschichte die moralische Frage mit, wie diese Mittel zu dessen Ergreifung gerechtfertigt sind. Mit Blick auf die aktuellen Geschehnisse in der Welt erscheint die Tragweite jenes Themas in einem brisanteren Licht denn je.
So erstaunt es auch nicht, dass sich Bühnen Bern für die Aufführung ihres Guillaume Tell von Gioachino Rossini für eine Modernisierung des Werkes entschieden haben. Man wird visuell also nicht etwa in die mittelalterliche «Schweizer Naturidylle» versetzt, sondern findet sich in einem düsteren Bühnenbild wieder. Die Stimmung ist konspirativ, überall droht Verrat und Tod. Dieses Empfinden verstärkt die Behandlung des Bühnenlichtes, auf welches die renommierte Regisseurin Amélie Niermeyer (für das Licht an sich ist Bernhard Bieri verantwortlich) in der Inszenierung besonders grossen Wert legt. So ist die sonst von grauen Gebäuden dominierte Drehbühne durch ein grelles, ungemütliches Licht erhellt, was die beklemmende Lesart verstärkt. Einzig das erhöhte Kinderzimmer von Tells Kind Jemmy, das in der Berner Inszenierung zur Tochter und verkörpert wird, ist in warmes Licht und einer farbigen Tapete erleuchtet. Die Träume des Mädchens, sein Bewusstsein für die Schönheit der Natur und der Glaube an das Gute wird an diesem Ort bewahrt und genährt. Wie ein roter Faden nimmt uns diese Figur mit ihrem vielleicht etwas naiven Blick auf die Welt durch die Inszenierung mit. Kontraste finden sich aber nicht nur im Bühnenbild, auch die Musik von Rossini erklingt in einer sehr kontrastreichen Interpretation des Berner Symphonieorchesters unter der Leitung von Sebastian Schwab. So kann das Ensemble auch mit gewagten interpretativen Entscheidungen überzeugen, wenn beispielsweise der so berühmte Galopp der Ouvertüre auf einmal vor die letzten beiden Akte gestellt wird – und dramaturgisch durchaus Sinn macht.
Ein Fest für den Chor
In seiner letzten Oper beschritt der sich auf dem Gipfel seines Ruhmes befindende italienische Komponist Gioachino Rossini gänzlich neue Wege. Denn es handelt sich bei diesem, auf dem Libretto von Etienne de Jouy und Hippolyte Bis basierenden und am 3. August 1829 uraufgeführtem, Werk um eine Grand Opéra, eine damals gerade aufkommende neue Form der Oper. Rossinis so bekannte ausschweifende Koloraturen und Crescendowalzen weichen einer differenzierten Dramatik, die es in sich hat: Es ist musikalisch wie bühnentechnisch eine Herausforderung, aber auch ein üppiges Fest für den – nicht zuletzt das Volk repräsentierenden – Chor. Der Chor von Bühnen Bern überzeugt mit ausgeprägter Körperlichkeit und Dynamik sowie einer bemerkenswerten Präzision. Den Glanz der Solistinnen und Solisten trübt dies aber keinesfalls. Besonders Anton Rositskiy sorgt mit seinem strahlend hellen, lyrischen Tenor als Arnold Melcthal für Glanzpunkte und Masabane Cecilia Rangwanasha lässt als adelige Habsburgerin Mathilde, die später auf die Seite der Eidgenossen wechselt, nichts an Sinnlichkeit aus. Ihre Romanze «Sombre forêt» im zweiten Akt kann wohl als ein musikalischer Höhepunkt der ganzen Inszenierung bezeichnet werden. Trotzdem fehlt zwischen den beiden Liebenden etwas die Leidenschaft, sie verhalten sich im Liebespiel eher zurückhaltend.
Kunst und Krieg
Das Thema Krieg und Freiheitskampf setzt Niermeyer mit Kostümen von Axel Aust und der Bühne von Christian Schmidt ungeschönt und entsprechend auch martialisch in Szene. Maschinenpistolen, Partisanengewänder und hohe Stiefel wirken sehr authentisch. In den ersten beiden von insgesamt vier Akten kommt die Handlung mitunter etwas schleppend voran, besonders die Drehbühne wird – so beeindruckend sie auch sein mag – sehr plakativ eingesetzt. Vielleicht symbolisiert die manchmal fortwährende Drehbewegung aber auch das ständig um sich kreisende Thema Krieg – sei es im ursprünglichen Stoff begründet oder im Bühnenbild in Form von Videoeinspielungen aus Weissrussland und der Ukraine. Im Schlussakt donnert der Chor zwar «Liberté» – aber wie weitreichend ist diese Freiheit wirklich? Dieses auch in der Musikwissenschaft vieldiskutierte Ende inszeniert Bühnen Bern mit gewaltiger Symbolik: Das Licht wird zu diesem Zeitpunkt wärmer und gibt einen Hoffnungsschimmer. Dieser wird dennoch eingetrübt: Haargenau an der Stelle, an welcher der Trugschluss in der Musik erklingt, erscheint auf der Bühne die Aufschrift «Krieg 1729 km». Auf alle Fälle macht diese kontrastreiche Produktion sehr nachdenklich und wird für das Publikum auch nach dem Opernbesuch im Stadttheater Bern weiterhin mitschwingen.
Thomas Tschudin, im November 2022