Dramaturg Rainer Karlitschek über Rossinis Guillaume Tell
Ja, der Tell-Stoff steht als Ganzes für Freiheit und ja, Wilhelm Tell ist eine positive Figur, die für den Kampf für diese Freiheit steht. Und ja, Wilhelm Tell greift zur Waffe und tut etwas, was moralisch eigentlich nicht sein darf: Er ermordet einen Menschen. Du sollst nicht töten, besagen die Zehn Gebote – gibt es aber Ausnahmen? Wann ist die Ermordung gar legitim? Ist der Tyrannenmord – denn Gessler im Tell-Mythos ist ein solcher – vielleicht sogar geboten? Die Arbeit am Mythos Tell hat über Jahrhunderte diese Frage immer wieder neu gestellt und aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, sodass selbst die Unsicherheit, ob Wilhelm Tell eine historische Figur ist oder nicht, in den Hintergrund getreten ist, weil sich Erzählungen überschneiden und in unterschiedlichsten kulturellen Zusammenhängen nicht nur in der Schweiz stets neuen Ausdruck gefunden haben. Tell ist also schweizerisch und universell zugleich, weil er Anknüpfungspunkte in unterschiedlichen Zeiten und Orten bietet und immer wieder auf den sensiblen Punkt verweist, was die Umstände von Freiheit sind und wie sie als Ideal integrative Kraft entfaltet.
Die literarisch berühmteste Adaption des Stoffes durch Friedrich Schiller aus dem Jahre 1804 stellt in diesem Sinne eine Besonderheit dar, denn sie wurde lange Zeit fast wie eine Originalquelle behandelt – sogar in der Schweiz, die doch den Ursprungstell für sich reklamiert. Selbst Gottfried Keller leistet dieser Sichtweise Vorschub, indem er in seinem Bildungsroman Der grüne Heinrich ein heimatliches Volkstheater schildert, das wie selbstverständlich auf Schillers Text basiert. Dabei geht oftmals verloren, dass ausgerechnet Schillers Schauspiel kein generelles Lob auf die Freiheit zeichnet und gerade dem Tyrannenmord klare Grenzen setzt. Bei Schiller ist Wilhelm Tells Mord an Hermann Gessler die Tat eines Einzelnen, die auf der Erfahrung der Ungerechtigkeit gegenüber seiner Familie beruht. Das nationale Verschwörer- und Freiheitspathos ist diesem Tell völlig fremd. Er nimmt nicht am Rütlischwur teil und zieht sich nach der Befreiung komplett ins private Glück der Familie zurück. Als politisches Symbol will er nicht taugen. Die Parricida-Episode des letzten Akts, als dieser Tell als verbündeten Kämpfer gegen erlittenes politisches Unrecht zu gewinnen versucht, zeigt, dass Tell trotz seiner Tat den Mord als Mittel der Politik eigentlich ablehnt. Zu erkämpfende Freiheit ist bei Schiller eben kein Freifahrtschein für Mord. Diese Episode zeigt die Komplexität in der Beurteilung, ob und wie ein Freiheitskampf gerechtfertigt sein kann. Verallgemeinern lässt sich diese Frage anscheinend nicht. Auch nicht in der Opernversion des Komponisten Gioachino Rossini, die dieser 1829 in Paris zur Uraufführung brachte und die wiederum eine eigenwillige Variante der Arbeit am Mythos darstellt.
Den vollständigen Artikel von Rainer Karlitschek können Sie im Programmheft zu «Guillaume Tell» lesen, welches ab dem 15.10.2022 an der Billettkasse erhältlich ist.