Von Jägern und Gejagten von Rainer Karlitschek
Nur wenige Takte genügen Giacomo Puccini, um die Grundsituation der gesamten Oper Tosca hör- und fühlbar zu machen: drei wuchtig ansteigende Fortissimo-Akkorde in B-Dur, As-Dur und E-Dur, gefolgt von gehetzten Melodiefetzen, stotternd anmutend, verunsichert und nirgendwo zu einem melodischen Zentrum kommend, die sich im Pianissimo verlaufen – so als würde die Musik vor den drei mächtigen Akkorden, in denen sich der Tritonus, der Teufel in der Musik, versteckt, fliehen, ohne ein Ziel. Die Musik zeichnet nach, was auf der Szene zu sehen ist: die Flucht eines politischen Gefangenen (Angelotti, der ehemalige Konsul der Republik Rom), die nur für den Moment erfolgreich verläuft – im Fortgang der Oper endet diese Episode mit dem Selbstmord des Protagonisten. Dieser wird auf der Bühne nur als Nachricht überbracht, ist also nicht mehr wert als eine kleine Randbemerkung, als wären das Leben, die Flucht und das Ende eines Menschen mit demokratischen und freiheitlichen Prinzipien und Gedanken – nichts! Angelotti, ein Gefangener, ein Getriebener, ein Flüchtling, der sich einer erneuten Inhaftierung durch Selbstmord entzieht, weil er lieber nicht leben möchte, denn erneut heroisch als politisch Gefangener im Kerker zu darben. Sinnlos wirkt das, denn niemand wird davon Kenntnis nehmen, eigentlich nicht einmal der Zuschauer. All das bereitet Puccini klanglich in weniger als einer Minute zu Beginn der Oper vor – eine musikalische Metapher und Klangchiffre für Menschen, die Getriebene fremder und eigener Gewalt sind.
Die drei Anfangsakkorde werden beim ersten Auftritt des gefürchteten römischen Polizeichefs Baron Scarpia erneut erklingen und so die Klangchiffre klar ihm zugeordnet (und daher oft als sein Personalmotiv bezeichnet). Scarpia ist die Verkörperung gewaltvoller, auf Brutalität beruhender willkürlicher staatlicher Macht. Diese ist klanglich und dramaturgisch eine elektrisierende Pose, die ihre Wirkung nicht nur auf den Zuschauer, sondern auch auf die Protagonisten in der Oper nicht verfehlt. Sie ist Dreh- und Angelpunkt der Konfliktdramaturgie. Die Protagonisten sind Getriebene, sogar Scarpia selbst. Auf den ersten Blick erzählt die Oper kurz und knapp eine traditionelle Dreiecksgeschichte von einer Frau zwischen zwei Männern: Der Polizeichef Scarpia begehrt die Sängerin Floria Tosca, die aber wiederum in einer Liebesbeziehung zum Maler Mario Cavaradossi steht – so weit, so konventionell. Eigenwillig ist die Oper in der Dichte von dramaturgischen Motiven, die alle aus dem Theater bekannt sind, die aber in der Darstellung als hohl entlarvt werden. Da ist beispielsweise ein Fächer: Diesen hat die Marchesa Attavanti mitsamt einiger Frauenkleider in der Kirche versteckt, um ihrem Bruder Angelotti nach seiner Flucht eine Verkleidung zu ermöglichen. Kleider und ein Fächer – eigentlich Zeichen eines Versteckspiels. Während die Kleider ohne Bedeutung bleiben, fungiert der Fächer als Mittel einer Intrige. Er fällt dem Baron Scarpia in die Hände, der instinktiv erkennt, dass er damit bei Tosca Eifersucht auslösen kann. «Iago brauchte ein Taschentuch, mir genügt ein Fächer» – sagt Scarpia und liefert die dramaturgische Referenz gleich mit, indem er diesen mit dem Eifersuchtsmittel aus Shakespeares Othello gleichsetzt. Und es gelingt: Der Fächer ist Baustein der Verunsicherung Toscas, die schon in der ersten Begegnung mit Cavaradossi nicht damit klargekommen ist, dass das Bildnis der Madonna, die der Maler gerade gestaltet, der Gräfin Attavanti gleicht. Cavaradossi hat ihrer Eifersucht gerade noch einmal Einhalt gebieten können, doch der Fächer scheint den Maler schon wieder Lügen zu strafen und Toscas Eifersucht zu rechtfertigen. Der Fächer als Stein des Anstosses verdeutlicht unmittelbar, dass es in der Dramaturgie der Oper um eine Umdeutung traditioneller Mittel in der aufkommenden Moderne geht. Der Fächer, ein traditionelles Zeichen von Galanterie, also Ausdruck eines hochkomplexen Spiels von höfischem Begehren, wird zum Zeichen puren körperlichen Triebs. Tosca verfängt sich im Affekt und Scarpia geilt sich an ihrer Reaktion auf. Das verfeinerte Spiel des Begehrens ist seines Zaubers entledigt, übrig bleibt purer Sexualtrieb der niedersten Sorte, weil er auf Macht und somit auf Unterwerfung beruht. Scarpia kennt nur Macht und Gewalt, romantische Liebe spielt keine Rolle. Doch auch die romantische Liebe, die von Cavaradossi und Tosca immer wieder beschworen wird, hat ihre Ausstrahlung verloren. Sie existiert nur mehr als Wunschbild oder als Abziehbild aus der Vergangenheit. Das Paar versichert sich zwar, dass sie im romantisch gelegenen Haus des Malers wunderbare Stunden der Liebe genossen haben, doch es gelingt beiden nicht, dorthin ungestört zurückzukehren. Es wird zum Versteck für Angelotti, Scarpias Schergen durchsuchen es und nehmen den Maler fest. Als trautes Nest der Liebe ist der Ort verloren, so wie die Liebe insgesamt prekär ist. Die Oper betont die Abgründe, die der Liebe überall auflauern. Scarpia will Tosca besitzen, er treibt sie in die Enge und löst eine unheilvolle Kettenreaktion aus. Denn ganz im Gegensatz zu Mozarts Don Giovanni mit Donna Anna, gelingt es Scarpia nicht, ein geheimnisvolles Spiel des Begehrens und der Begierde zu vollführen. Tosca verabscheut Scarpia abgrundtief und greift im Gegensatz zu Donna Anna zum Messer und ersticht den Wüstling, bevor der Geschlechtsakt vollzogen werden kann. Es folgt auch keine Höllenfahrt, sondern nur ein kreatürliches Röcheln, ein dürftiger, ein tierischer Tod – einfach abgeschlachtet. Dass nun ausgerechnet Scarpia erbärmlich um Hilfe ruft, zeigt, wie rasch der Moment des Triumphs des Bösen verkehrt wird. Und trotzdem steht dieser Mord nicht am Ende des Dramas, weil er nicht wie im klassischen Drama die Katastrophe als Kulmination der Konflikte versinnbildlicht, sondern im Grunde diese erst auslöst. Tosca täuscht sich, wenn sie glaubt, im Tod des Gegners eröffne sich für sie eine Überwindung des Leids. Im Gegenteil erliegt sie immer mehr ihrem Trugschluss, es könnte ihr gelingen, dem Leben mithilfe ihrer Erfahrungen als Künstlerin auf der Bühne gestalterisch zu begegnen. Es mag verwirrend klingen, aber Tosca, die in ihrer grossen Arie davon singt, sie habe allein für die Kunst und die Liebe gelebt, wendet sich in einem Gebet an Gott. Sie klagt Gott an, warum er sie in eine so ausweglose Situation hat bringen können. Was wie eine klassische Preghiera, ein Gebet also, wirkt, ist eigentlich das Gegenteil eines Gebets. Tosca wendet sich von Gott ab. Von nun an will sie selbstermächtigt handeln und ersetzt den Glauben an Gott durch den Glauben an die Kunst. Sie handelt fortan, als wäre sie Teil einer antiken Tragödie. Doch sie erkennt nicht, dass ihre Strategie nicht aufgehen kann. Sie handelt zwar wie eine Tragödin auf der Bühne, verwechselt aber letztlich das Leben mit dem Theater. Oder anders gesagt: Sie versteht nicht, dass das Leben nicht mit den Mitteln des Theaters funktioniert. Sie trifft zwar ganz offensichtlich in Scarpia auch auf einen Spieler, doch er ist einer, der keine Regeln kennt. Es gibt im zweiten Akt einen Punkt, an dem sie glaubt, im Spiel die Oberhand zu gewinnen: Sie fragt nach dem Preis für das Leben Cavaradossis. Sie geht aufs Ganze und ist bereit, sich selbst Scarpia hinzugeben, wenn er Cavaradossi eben nur zum Schein erschiessen lässt und den beiden mit einem Passierschein die Flucht ermöglicht. Scarpia geht darauf ein, doch wiederum nur zum Schein, was sie nicht erkennt oder gar nicht für möglich hält. Als sie vor dem Vollzug des Sexualakts ein Messer erblickt, handelt sie erneut nach dem Vorbild einer antiken Tragödin und ermordet den Widersacher. Anschliessend bestätigt sie diesen theatralen Racheakt, indem sie die Leiche symbolisch mit Kerzen und Kreuz umstellt. Indem sie ihren Mord als szenische Katastrophe inszeniert, kann sie sich selbst von dem Tun distanzieren und rechtfertigen: «Vor diesem Mann zitterte ganz Rom!» Sie ist längst mit der imaginierten Bühnenrolle eins geworden und sieht sich als Regisseurin von Scarpias Tod. Für sie ist klar: Sie muss nur noch einen letzten Akt der Scheinhinrichtung mitspielen, dann ist der Neustart in einer fernen Realität möglich. Doch sie hat nicht mit Scarpias eigener Perfidie gerechnet. Denn Scarpia, der als Zyniker schon längst das Leben als lachhaftes Theater und sich selbst als Regisseur des Bösen ausgelebt hat, hat nicht eine Sekunde daran gedacht, auf Toscas Spiel einzugehen. Er als das verkörperte Böse hebelt jedes Spiel, jedes Theater aus. Das muss nun auch Tosca erfahren, als sie Cavaradossis Leichnam wie jenen Scarpias in den Händen hält. Die Hinrichtung war kein Spiel, Cavaradossis Verhalten nicht jenes «Toscas im Theater». Die Regeln des Bösen weisen selbst über den Tod des Bösewichts hinaus. Bei Shakespeare war das Böse am Ende der Stücke gebannt, doch Scarpia ist schlimmer als Iago oder Macbeth, weil seine Macht selbst nach seinem Tod nicht endet. Tosca wird noch weiter-getrieben: Als sie durch Stimmen vernimmt, dass Scarpias Tod entdeckt worden ist und man sie als Täterin vermutet, wird sie erneut zur Gejagten und entzieht sich der Festnahme durch den Sprung in den Tod. Deutlicher als durch Toscas Tod könnte man die Tragik der Moderne kaum formulieren. Die Romantik eröffnete mit dem Tod noch eine transzendentale Hoffnung. Doch Tosca kennt die Hoffnung nicht, sondern glaubt nur noch, ihren Widersacher vor dem gerechten Gott wiederzutreffen. Dieser Gott ist kein Gott der Versöhnung, sondern nur mehr ein Rachegott – dass Tosca ihn anruft, erneut reinste Pose. Doch damit ist der Himmel kein Ort der Gnade mehr. Gott ist tot, weil Gerechtigkeit von Tosca mit unreflektierter Rache gleichgesetzt ist. Selbst im Augenblick des Todes ist sie allein affektgetrieben. Ihr bleibt jegliche Erkenntnis verwehrt. Wo keine Erkenntnis mehr möglich ist, ist auch kein Sinn mehr erkennbar. Das Spiel des Lebens und des Theaters ist für Tosca nur noch eines: Da die Katastrophe keine Chance zur Katharsis, zur inneren Lösung der Konflikte mehr bereithält, bleibt nur noch Schock und schauerliche Pose. Mit Toscas Sprung in den Tod stürzen zugleich sämtliche Gewissheiten und Sehnsüchte der Romantik in den Abgrund. Mit Toscas Tod stirbt auch die Oper des 19. Jahrhunderts. Der Mensch ist nur noch nackt und aller Gewissheiten entblösst.