Kleine Kulturgeschichte der Vampire von Felicitas Zürcher
Ein einsames, ramponiertes Schloss im Besitz einer uralten Familie. Die Hauptfigur sitzt aus irgendeinem Grund darin fest: fehlende Transportmöglichkeiten, ein Gewitter – oder eine Seuche. Kerzenlicht. Ein Unfall, ein geheimnisvoller Gast … Die wichtigsten Zutaten der ‹Gothic Novel›, der Schauerliteratur, sind immer gleich und finden sich in fast beliebiger Variation. Dazu kommen grosse Gefühle: Rache, Liebe, Leidenschaft.
Entstanden im England des 18. Jahrhunderts, ist diese neue Gattung ebenso wie die Begeisterung dafür eine Reaktion auf die Aufklärung. Rationalität, Vernunft und Wissenschaft hatten das Denken revolutioniert, ganze Bereiche aus der Realität verbannt. Was nicht erklärbar war, existierte nicht mehr. Himmel und Hölle wurden geleert, das Dazwischen abgeschafft. Doch die Faszination für das Unerklärliche blieb.
Der Siegeszug der Gothic Novel war international und bahnbrechend. Die Steigerungen des Grusels und Horror wucherten in verschiedene Richtungen; Gespenster und Monster in vielerlei Gestalt traten auf den Plan: Mary Shelley erschuf im Sommer 1816 am Genfersee inmitten der europäischen Hungersnot Frankensteins Monster. Im gleichen Jahr zogen auch die Vampire in die Gothic Novel ein. In seiner Kurzgeschichte Der Vampir installierte John William Polidori den ersten Blutsauger als unheimlichen Fremden in der adligen englischen Gesellschaft.
Dabei ist die Vorstellung von Vampiren – lebenden Leichen, die Menschen fressen oder ihr Blut trinken – wahrscheinlich so alt wie die Menschheit und scheint tatsächlich eine Urangst unserer Gattung zu beschreiben. Die Antike kannte gleich mehrere vampirähnliche Gestalten: die blutsaugenden, vogelartigen Strigen, die am liebsten Kinder assen; die weiblichen Lamien, die es auf junges Männerblut abgesehen hatten; und die Harpyien, die aussahen wie Vögel mit Frauenkopf und Menschen ins Totenreich verschleppten. Im arabischen oder persischen Kulturkreis kennt man die Ghoule, die aus ihren Gräbern steigen, Reisende in der Wüste vom Weg weglocken und verschlingen. Das Buch Dracula – Mythen und Wahrheiten verzeichnet für den Vampir 221 Namen, Sonderformen und Überlieferungen von A bis Z.
Auch in der Aufklärung, die den Vampir abschaffen wollte, wurde eifrig gesammelt: «Vampyren, oder Blutsauger, diese haben mit den schmatzenden Todten […] grosse Verwandtschaft. Man verstehet dadurch todte menschliche Cörper, welche aus den Gräbern hervor spazieren, den Lebendigen das Blut aussaugen, und sie dadurch umbringen sollen», weiss Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, entstanden Mitte des 18. Jahrhunderts. Nach der detaillierten Beschreibung verschiedener Beispiele aus Ungarn, Serbien, Slowenien und Griechenland kommt der Verfasser zum Schluss: «Allein dieses sowohl als alles übrige […] ist eine blosse Einbildung, und handgreiffliche Fabel.»
Vampire sind also widerlegt, und selbst für ihre bekannten phänotypischen Merkmale gibt es eine medizinische Erklärung: Die mittlerweile besser erforschte Stoffwechsel-Krankheit Porphyrie führt zu Halluzinationen, Zahnfleischschwund und Unterversorgung mit dem roten Blutfarbstoff. Die Betroffenen sind bleich und sehr lichtempfindlich, durch den Zahnfleischschwund treten die Zähne deutlich hervor, manchmal wirken sie sogar blutig. In der Vergangenheit wurde Porphyrie-Patient*innen Tierblut verabreicht, um die akuten Beschwerden bei Schüben zu lindern. Knoblauch dagegen fördert den Abbau von Hämoglobin und verstärkt dadurch die Symptome weiter.
Doch aller Wissenschaft, Medizin und Aufklärung zum Trotz: Die Vampire leben weiter und wirken bis in die Gegenwart. Munter und sehr vital überspringen sie alle Gattungs- und Genregrenzen, und obwohl sie selber kein Spiegelbild haben, funktionieren sie fast seismografisch als Spiegel der Ängste, Sehnsüchte und Tabus der jeweiligen Gegenwart: Sheridan Le Fanus Carmilla aus dem Jahr 1872, die Vorlage der Schauspieloper von Jan Dvořák für die Bühnen Bern, sprengt die strengen Konventionen des viktorianischen Zeitalters. Homosexualität bei Männern war verboten und wurde verfolgt, bei Frauen war sie schlicht kein Thema – in der Liebe einer jungen Frau zu einer Vampirin formuliert die Erzählung das Undenkbare und Unerhörte. In der Strauss-Operette Die Fledermaus von 1874 rächt sich ein Mitglied der höheren Gesellschaft für die Demütigung, nach einem rauschenden Ball im Vampirkostüm durch die Strassen geirrt zu sein: Das Tageslicht, lebensgefährlich für den Vampir, bringt dem betrunkenen verkleideten Vampir in der Habsburger Monarchie den gesellschaftlichen Tod. Bram Stockers Dracula von 1897 und sicher die einflussreichste Version aller Vampir-Geschichten gibt der grossen Angst des bürgerlichen Mannes vor der unbekannten und unzähmbaren Libido seiner Ehefrau einen Raum. Elfriede Jelinek wiederum lässt 1987 in Krankheit oder moderne Frauen der Vampirin Emily von einem Zahnarzt ausfahrbare Zähne machen – nach dem Vorbild des männlichen Gliedes und als weibliche Emanzipationstat. Die Twighlight-Saga schliesslich, deren erste Staffel 2008 erschien, erfindet in der aufkommenden Kritik am Fleischkonsum zeitgemäss vegetarische Vampir*innen.
Und nun, in der Diskussion um gesellschaftlichen Wandel, grüne Wende und ein nachhaltigeres Leben, werden die wandelbaren Vampire in der Carmilla-Version von Jan Dvořák und Roger Vontobel zum Modell für eine bessere Gesellschaft: Sie sind extrem genügsam und brauchen nichts als ein bisschen Blut. Sie schlafen über Jahrhunderte in den immer gleichen Särgen und Gruften unter den immer gleichen Schlössern. Sie wachsen nicht und vermehren sich nicht – zumindest nicht auf geschlechtlichem Weg. Ihre Gesellschaft ist nicht auf Ehrgeiz und Expansion ausgerichtet. Selbstverwirklichung ist ihnen fremd (vgl. dazu auch den Text von Dmitrij Gawrisch, S. 24). Sie scheinen in der Tat nur zu feiern und zu schlafen – wenn sie nicht gerade ein paar Menschen in ihre Welt hinüberziehen. Das scheint ihr einziges Expansionsziel zu sein: sich als Gattung gegen die Menschen durchzusetzen. Und das wäre objektiv gesehen vielleicht wirklich wünschenswert. «Warum singst du nicht weiter», sagt schon die kleine Laura zu der fremden Frau, die das zauberhafte und melancholische «Meghalok» an ihrem Bett singt. In der gegenwärtigen Zeit ist eine genügsame Gesellschaft in der Tat ein grosser Sehnsuchtsort. «Wir wiegen nicht viel. Die Erde spürt uns kaum», sagt Laura nach ihrer vollständigen Transformation, wenn sie sich aus dem gesellschaftlichen Kokon befreit hat. Das halb-unsichtbare, schwerelose Dasein der Vampire könnte zumindest für die Erde tatsächlich die bessere Alternative sein.