Komponist und Librettist Jan Dvořák im Gespräch mit der Dramaturgin Rebekka Meyer über seine neueste Schauspieloper Carmilla, deren musikalische Motivik und die Bedeutung von Musik auf der Bühne und im Leben.
Rebekka Meyer: Jan Dvořák, du bist Komponist, Librettist, Dramaturg und vieles mehr; du bist in dieser Spielzeit einerseits Composer-in-Residence bei der Camerata Bern, schreibst Opern, aber auch Pop-Songs und interessierst dich für Bach ebenso wie für Björk. Wo kommst du musikalisch und kompositorisch her, was hat dich besonders geprägt?
Jan Dvořák: Meine Grossmutter gehörte als Flötistin zur norddeutschen Alte-Musik-Szene, mein Vater singt als echter 68er eher Blues und Folksongs. Die Avantgarde hat mich früh fasziniert, das war meine ureigene Leidenschaft, sie konnte aber die älteren Einflüsse nicht verdrängen. Mein Kompositionsstudium in Hamburg wiederum war eher altmodisch, zum Ausgleich habe ich in Bands gespielt und Theaterprojekte entwickelt. Das alles hat mich geprägt.
RM: Gerade in unserer Uraufführung Carmilla hört man dieses vielseitige Interesse deutlich. Die Motive reichen von klassischen, filmmusikalisch geprägten Gruseleffekten über Volkslieder bis zum barocken protestantischen Kirchenlied. Aus welchem Fundus hast du hier geschöpft?
JD: Ich empfinde das nicht als gegensätzlich. Ausgangspunkt der gesamten Komposition war Lauras «Sinking»-Song, den ich auf der Gitarre geschrieben habe wie ein Singer/Songwriter. Aus diesem Keim ist dann die halbe Oper entsprungen, bis hin zum symphonischen Walzer. Als ich diesen Walzer am Klavier ausprobierte, klopfte übrigens meine Nachbarin, die sich sonst immer beschwert, an die Tür, weil sie unbedingt wissen wollte, was das war. Ich musste sie enttäuschen, bei Spotify gibt es den leider nicht. (lacht)
RM: Hat dich auch der Stoff zu spezifischem musikalischem Material angeregt?
JD: Die Carmilla-Novelle von Sheridan Le Fanu spielt in der österreichischen Steiermark, gleich neben Ungarn, zu dem damals auch Transsilvanien gehörte, die Heimat Draculas. Als ich in einer Volksliedsammlung des ungarischen Komponisten Zoltán Kodály das schöne und ein bisschen unheimliche «Meghalok»-Volkslied fand, war ich sofort begeistert. – «Ich muss sterben und weiss nicht einmal, warum». Es wurde zu einem Grundmotiv des Stückes.
RM: Besonders dieses ungarische Volkslied kehrt in Lauras Träumen fast leitmotivisch wieder. Welche Rolle spielt es musikalisch und inhaltlich in der Partitur?
JD: Es gibt drei musikalische Pole in der Partitur: Lauras «Sinking», das geistliche Lied von Bach, das auch für eine gewisse protestantische Ordnung steht, und das mysteriöse «Meghalok». Diese Musiken stehen für ganz unterschiedliche Weltentwürfe, alleine ihre Begegnung ist schon ein kleines Drama. Wenn die Gräfin das fromme Lied Bachs zu einer radikalen Absage an den hellen Tag umformt – so etwas finde ich spannend!
RM: Die Musik Bachs gehört erst zu Madame Perrodon, die als gläubige Christin als Feindin der Vampire agiert. Erst später wird es von den Vampiren wieder aufgegriffen.
JD: Madame Perrodon – in der Novelle übrigens eine Bernerin – fühlt mütterlich für Laura. Sie will gegen deren unheimliche Verwandlung angehen, und sie nutzt geistliche Musik dazu. Aber die Musik entwindet sich ihr und entwickelt ein Eigenleben. So geht es mir beim Komponieren übrigens manchmal auch.
RM: Inwiefern hat die Musik bei Carmilla ein Eigenleben entwickelt? Hat dich beim Komponieren etwas überrascht, was anfangs nicht so geplant war?
JD: Ja, unbedingt! Anfangs sollte zum Beispiel Carmilla viel mehr sprechen. Im Laufe des Prozesses habe ich dann immer mehr Passagen vertont, es passte einfach besser zu Rogers Regiekonzept. Es gibt auch bestimmte Akkorde und Klänge, die zunächst nur an einer bestimmten Stelle standen, dann aber nach und nach das ganze Stück infiziert haben. Das hört man besonders im Finale.
RM: Dramaturgisch gibt es eine klare Setzung: Die Vampire singen und die Menschen reden. Deshalb sind die Vampire auch mit Opernsänger*innen besetzt, die Menschen hingegen mit Schauspieler*innen. Weshalb passt denn der Operngesang so gut zu diesen mythischen, übernatürlichen Wesen?
JD: Ich wollte die jeweiligen Qualitäten für unsere Geschichte nutzen. Im Schauspiel schreit, weint und flüstert der Mensch, das Menschliche. Im Operngesang dagegen bekommt die menschliche Stimme etwas fast Übernatürliches, der Mensch verwandelt sich in ein mächtiges Instrument. Schon zu Beginn der Operngeschichte waren es deshalb Götter und Halbgötter, die da auftraten.
RM: Es gibt auch Figuren, die dazwischenstehen, wie der Gaukler Rehnfeldt, der immer wieder singt, und natürlich die Hauptfigur Laura, die gegen Ende einen eigenen Song hat. Wie kommen diese Menschen zum Gesang?
JD: Unsere Vampirwelt ist ja die waghalsige Utopie eines Lebens im Gleichgewicht, in dem die «Zeit nicht mehr vergeht», wie es im Text heisst, und es «kein Wachsen mehr gibt, kein Vergehen und keine Gier». Das ist ein Zustand, den nur Musik vermitteln kann, wenn man nicht meditieren will. Rehnfeldt und Laura sind auf ihrem Weg in diese Utopie. Daher beginnen auch sie, zu singen. Es ist das Zeichen ihrer Umwandlung.
RM: Der Chor nimmt als Vampirkollektiv nochmals eine besondere Stellung ein: Er repräsentiert die Welt der Vampire nicht nur darstellerisch, sondern auch musikalisch, indem er das Atmosphärische der Partitur mitgestaltet.
JD: Ja, das stimmt. Besonders, wenn er hinter der Bühne singt, ist er ein klingendes Zeichen für die andere Welt. Das ist dann nicht mehr sprachlich, sondern eher wie eine unsichtbare Landschaft.
RM: Du hast eine besondere Besetzung des Orchesters gewählt, nämlich ohne Violinen, dafür mit Klavier, viel Schlagwerk, E-Bass und einem Cimbalom, einem Hackbrett, das besonders im ungarischen Raum sehr verbreitet ist. Wieso hast du dich gerade für diese Besetzung entschieden?
JD: Die dunklere, rauhere Klangfarbe der Bratschen interessierte mich, die wird im Orchester durch die Violinen oft verdeckt. Der entstehende Freiraum in der Höhe kann dann von schillernden, glockigen Instrumenten wie Vibraphon, Klavier oder eben Cimbalom gefüllt werden. Und ganz unten dann ein E-Bass. Das ist für mich der Klang von Carmilla! Ich habe für die Orchestration mit meinem langjährigen Kollegen Roman Vinuesa zusammengearbeitet, einem wahren Maler der Orchesterfarben. Als ich ihm von meiner Idee mit den Bratschen erzählte, meinte er, das sei gut. Aber eine Violine bräuchten wir schon, eine einzige. Und genau so ist es gekommen.
RM: Abgesehen vom Singen spielt das Musizieren eine Rolle im Stück: Laura spielt Klavier, Rehnfeldt Geige. Ist das für dich vor allem Ausdruck der dargestellten bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts oder steckt da noch etwas Anderes dahinter?
JD: Ich glaube wirklich, dass man beim Musizieren und Singen in Kontakt mit einer anderen Welt kommt. Einer metaphorischen Welt, sozusagen. Um noch einmal auf unsere Deutung des Vampir-Themas zu sprechen zu kommen: Es wäre gut für die Welt und die Menschheit, wenn wir mehr Energie in unser metaphorisches Leben stecken würden und weniger in das reale, materielle. Die Erde ist nicht unbegrenzt; die Phantasie aber schon. Wenn ich musiziere, kann ich hier und jetzt glücklich sein, ohne dabei ein einziges Gramm zusätzliches CO2 zu erzeugen. Es gibt dann wirklich «kein Wachsen mehr, kein Vergehen und keine Gier». Insofern sind wir Musiker eigentlich alle Vampire.