Regisseurin Mina Salehpour im Gespräch mit der Dramaturgin Elisa Elwert über die norwegische Dramatik und den Rhythmus von Gefühlen
Elisa Elwert: Mina, du arbeitest viel international und kennst das norwegische Theater gut. Der Autor unseres Stücks Zeit für Freude gilt als Literaturstar der norwegischen zeitgenössischen Dramatik. Wo und wie bist du ihm begegnet?
Mina Salehpour: Arne Lygre lebt in Oslo, wir sind uns dort am Det Norske Teatret begegnet, wo wir zeitgleich gearbeitet haben. Er hat in Oslo dieses Stück Tid for Glede (Zeit für Freude) geschrieben, es hat dort seine Uraufführung gefeiert. Ich habe ihn nach einer Vorstellung im Restaurant des Theaters kennengelernt, bei einem Drink. Wir haben uns sehr gut verstanden, er ist ein sehr aufmerksamer Mensch, ein interessanter Beobachter. Das merkt man seinen Stücken an. Er beschreibt Situationen und Menschen, die alltäglich erscheinen, auf der Oberfläche wird etwas Alltägliches verhandelt, aber darunter liegen die grossen zwischenmenschlichen Themen wie Einsamkeit, Liebe oder Tod.
Was hat dich daran interessiert, es hier in Bern zu inszenieren?
Dieses Stück, Zeit für Freude, war in Norwegen ein grosser Erfolg, rührte bei jeder Vorstellung das Publikum zu Tränen und riss sie aber auch vor Lachen vom Hocker. Es passiert nicht viel auf der Bühne, es ist das Wort, die besondere Sprache Lygres, die diese Emotionen überträgt. Das Norwegische ist sehr knapp, und ich war gespannt, ob das in der Übersetzung auch mit der deutschen Sprache funktioniert, ob es übertragen auf die deutsche Sprache, die mehr Worte benutzt, um einen Satz zu bilden, noch so einen Rhythmus hätte, und wie das klingen würde. Ich wollte mich gerne mit diesem Stück in Bern vorstellen, das so dankbar ist, um sich kennenzulernen, weil es genau darum geht: Wie begegnet man Leuten? Das fand ich schön. Es ist ein Stück, das die Tür öffnet, die Leute hineinlässt und Raum schafft, um einander zu betrachten.
Ich finde, das orts- und zeitunspezifische Setting des Stückes kreiert eine ganz besondere Gesprächssituation. Unter den Dialogen liegt eine Art Magie, die eine besondere Ehrlichkeit, Offenheit und Konfrontation in der Begegnung ermöglicht.
Das Stück hört sich erst an, als wären das normale Menschen in einer normalen Alltagssituation, die normale Gespräche führen. Es sind aber Kunstfiguren, es ist eine Kunstsprache, und es sind labormässige Anordnungen. Das lässt sich vergleichen mit einem Zustand ganz spät in der Nacht, kurz vor der Morgendämmerung, und man ist irgendwo unterwegs und stocknüchtern.
Es hat nichts mit einem alkoholischen Rausch zu tun, sondern es ist einfach nur spät. Und man ist so ein bisschen angeraut, man verwandelt sich so ein bisschen in eine Art Kunstfigur, die ein bisschen eine Kunstsprache spricht in einer Kunstsituation, bevor die Sonne richtig aufgegangen ist und der Tag beginnt. Das ist das Spannende daran, dieses Stück verhandelt in allem Naturalismus keine reale Situation.
Das wird auch durch die Figurenbezeichnungen deutlich. Sie scheinen für Archetypen zu stehen. Ein Protagonist heisst Ein Ich. Andere Figuren werden über ihre Beziehung zu Anderen definiert: Eine Mutter, Eine Ex-Frau. Sie stehen damit nicht für sich, sondern für Beziehungen und Positionen.
Daran sieht man, dass wir immer mehrere sind.
Um das Thema der (Kunst-)Sprache nochmal aufzunehmen: Das Stück zeichnet sich durch eine ganz besondere Musikalität in seiner Sprache aus. Ich würde den Rhythmus beinah als komponiert bezeichnen, mit diesen Pausen, die Arne Lygre als Regieanweisungen reinschreibt. Knappe Sätze und dann teilweise unerwartete und im Sprechfluss unübliche Pausen. Kannst du beschreiben, was da für dich passiert, durch diesen Rhythmus?
Ja, in der Sprache finden wir eine Ebene des Rhythmus. Noch wichtiger finde ich aber den Gefühlsrhythmus. Wenn man sich nur von dem Gefühl leiten lässt, hat man ganz oft Szenen, die schneller gesprochen werden, weil eine Aufregung transportiert wird, und andere, wo ganz lange nachgedacht wird, wo man etwas entweder wieder zurücknimmt oder erst zu Ende denken und vor allem zu Ende fühlen muss. Die Schauspieler*innen haben beschrieben, dass es überhaupt nicht darum geht, Figuren zu spielen, Situationen zu spielen, Gefühle zu spielen, sondern es geht darum, eine Collage an Gefühlen, wie Theaternebel, im Raum zu produzieren. Das kann dann rezipiert werden von den Zuschauenden oder Zuhörenden. Ich glaube, dass man immer wieder die Augen einfach schliessen könnte und dann Bilder sehen würde. Das ist eine Qualität, wenn Texte so tragen. Und dieser Rhythmus steht für den Rhythmus des Lebens, der ist manchmal breitgetreten und manchmal zu schnell, und er dient dem Fühlen und nicht dem Denken. Sonst geht es der modernen Theaterliteratur sehr oft um das Verständnis, das Begreifen von etwas, oder die Suche nach Fragen gleichermassen wie die Suche nach Antworten, und rückt das in den Vordergrund. Aber hier soll eigentlich nur gefühlt werden.
Was meinst du, warum gibt es in diesem Stück zwei Teile?
Ich vermute, weil Arne Lygre zwei besondere Situationen herstellen wollte. Der erste Teil spielt an einem Friedhof. Da ist eine Bank an einem Fluss neben einem Friedhof. Am helllichten Tag. Eine Situation, in der man anders wird, das kennt jede*r von uns. Man geht nicht auf den Friedhof und spaziert einfach. Sondern meistens kreisen die Gedanken, wenn man auf dem Friedhof ist, ja auch um die Vanitas, und den Gedanken hatte sicherlich auch Arne Lygre. Ein Friedhof, zu dem dann auch Leute kommen, um dort zu sitzen, um nachzudenken. Und der zweite Teil ist eine nächtliche Szene. So steht es im Text. Es ist eine Feier, eigentlich sollen Leute kommen und es soll ein Geburtstagsfest werden, aber es entsteht keine Party. Alle kommen aus unterschiedlichen Lebenssituationen und sprechen in dieser kleinen dunklen Wohnung. Trotz der Tristesse ist es aber irgendwie gemütlich. Alle sprechen in grosser Ehrlichkeit über die grossen Themen, bis der Morgen graut und zwei dieser Figuren übrigbleiben und gemeinsam feststellen, dass es die Freude im Leben gibt.