Nachwort zu Meine weisse Stadt und ich. Das Bernbuch. Der Text ist gekürzt, die vollständige Version kann im Buch nachgelesen werden.
Inhaltshinweis: Der Text thematisiert rassistische und diskriminierende Situationen.
Es gibt viele Bücher über Bern, doch 1973 wurde in New York eines der merkwürdigsten unter ihnen veröffentlicht: The Bern Book von Vincent O. Carter. Eine historische Koinzidenz will es, dass dieses Buch in einem Augenblick seinen Anfang nimmt, in dem sich die Bernerinnen und Berner fragen, wer sie sind, zu wem sie gehören und was aus ihnen wird. Und das ist nicht einmal die einzige seltsame Gleichzeitigkeit. Denn die Geschichte beginnt zwanzig Jahre vorher, im Jahre 1953.
Im Oktober 1953 erschien in Harper’s Magazine der Essay Stranger in the village von James Baldwin. (…) Was ihm in Leukerbad zustieß und was seine Anwesenheit in dem schneeweißen Dorf historisch bedeutete, beschreibt Baldwin in diesem Text. (verlinken)
Vier Monate bevor Baldwins Text in den USA erstmals erschien, erreichte Vincent O. Carter Bern, und zwar just in dem Moment, als die Stadt ihre sechshundertjährige Zugehörigkeit zur Eidgenossenschaft feierte. 150 000 Menschen begingen mit einem historischen Umzug einen «Tag stolzer Erinnerung, aus der der Wille emporwächst, dieser Gemeinschaft opferfreudig Treue zu halten», schrieb der damalige Grossrat Walo von Greyerz. Carter schien in einer märchenhaften Vergangenheit angekommen zu sein. Er kam aus einer anderen Welt.
«A city whiter than any American city I know of»
Noch heute erinnern sich manche an Carter als Berns «ersten» Schwarzen. Doch abgesehen davon, dass in der Bundesstadt Botschaftspersonal aus fast allen Ländern der Erde wohnte oder arbeitete, gab es bei oder kurz nach der Ankunft Carters durchaus Afroamerikaner in Bern, wenngleich nicht viele. (…) Der «erste Schwarze Berns» kann noch weniger bedeuten, dass man in Bern überhaupt noch nie Schwarze gesehen hätte. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hat es in Bern sogenannte «Völkerschauen» gegeben, zwischen 1834 und 1964, als der Zirkus Knie letztmals «Marokkanische Handwerker» zeigte, sind mehr als fünfzig Veranstaltungen, viele davon im Bierhübeli, belegt. Noch heute lebt eine Nachfahrin von Mitgliedern einer zur Schau gestellten afrikanischen Truppe im Kanton Bern. Am 19. November 1920 meldete das Intelligenzblatt der Stadt Bern den schwarzen «geschulten Schuhputzer Lewis» als Sehenswürdigkeit. Er werde «in der Schuhhalle Helvetia im Kornhaus Ihnen Ihre Schuhe gratis putzen. Gehen Sie hin! Niemand versäume die Gelegenheit.» Nur anderthalb Jahre später allerdings, am 24. Februar 1922, trat am Meeting des Boxing-Clubs Bern im Bierhübeli der schwarze Berufsboxer Sam King gegen einen Neuenburger namens Weber an, ohne für großes Aufsehen zu sorgen. Womöglich hatten manche Bernerinnen und Berner während der Internierungen französischer Verbände 1871, 1916 und 1940 auch Kontakte mit nordafrikanischen Soldaten. Unter den amerikanischen Soldaten, die die Schweiz und Bern nach Kriegsende besuchten, waren sicher Schwarze. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass die Schweiz seit 1951 mit Raymond Bardel ihren ersten nichtweißen Fußballnationalspieler hatte.
Ein Dorf in den Bergen, das war die ehemalige Söldner- und Kolonialmacht und spätere Diplomaten- und Spionagestadt Bern ohnehin nie gewesen, aber die Berner hatten sich, zustimmend oder ablehnend, ein solches Bild von sich gemacht. Vielleicht war Carter nicht der erste Schwarze in Bern, doch er war wohl der erste, der blieb und die Erinnerung an ihn drückt das verhohlene Entsetzen darüber aus, dass das so war. Folglich kamen einige seiner Bewohner durchaus erstmals in die Lage, mit einem Schwarzen zu tun zu haben, was nicht heißt, dass sie nicht schon eine Vorstellung von ihm gehabt hätten. (…) Dass Carter ziemlich allein war, lag aber nicht nur an seiner Hautfarbe. Carter arbeitete «out of contact with other writers in his language.» Er wollte an zwei Orten nicht dazugehören: Dort wo er hinkam nicht und nicht dort, wo er herkam.
«A mere thought of myself»
Carter wurde 1924 in Kansas City, Missouri, als Kind von Eltern geboren, die selbst noch Kinder waren. Er wuchs in der schwarzen Unterschicht auf und verdiente sein erstes Geld in einer Waffenfabrik. Als 17-Jähriger wurde er in die Armee eingezogen und landete 1944 in der Normandie. Im August zog er mit den amerikanischen Truppen in Paris ein. Nach Kriegsende studierte Carter mit Hilfe des Militärstipendiums am Oriel College in Oxford, an der Lincoln University Oxford, Pennsylvania und an der Wayne State University in Detroit, unterbrochen von Anstellungen als Eisenbahnkoch und in einer Automobilfabrik. 1953 kehrte er nach Paris zurück, wie er es sich als Soldat vorgenommen hatte. Doch Paris und alle anderen europäischen Städte, die er danach besuchte, empfingen ihn nicht mehr als Befreier, sondern als Fremden. Carter ließ sich nirgends nieder, bis er nach Bern kam, wo er Freunde besuchen wollte, die auf der amerikanischen Vertretung arbeiteten – und blieb.
Mit der wiederkehrenden, halb eingeschüchterten, halb selbstverliebten Frage der Berner, warum Carter sich ausgerechnet ihre Stadt ausgesucht habe, beginnt The Bern Book. (…) Das Bern Book ist eine Reflexion über Herkunft, Identität und Ausgrenzung und eine in der Literatur der Zeit seltene Innensicht auf den alltäglichen Rassismus in der Schweiz. Carter macht in Bern ähnliche Erfahrungen wie Baldwin im Wallis. Leute starren ihn an, Kinder zeigen auf ihn und laufen ihm nach, wer sich traut, fasst seine Haare an, generell wird er für einen Afrikaner gehalten. (…) Carter drehte den Spieß um: Er beobachtete «den Berner» mit einem ironisch-ethnografischen Blick als jenes fremde Wesen, für das der ihn, Carter, hielt, und das er, «der Berner», für die ganze restliche Welt war. Doch während Baldwin in einer dialektischen Meisterleistung eine eigentliche Identitätsgeschichte der rassistischen Segregation skizziert, geht Carter in eine andere Richtung, nach innen, in die Subjektivität. (…)
In den zwanzig Jahren zwischen seiner Ankunft und dem Erscheinen des Bern Book verfasst Carter mindestens drei Manuskripte, die seine damalige Partnerin Olga Tschumi ins Reine tippt. 1973, als sein erstes Buch endlich gedruckt wird, hat er das Schreiben bereits aufgegeben und sich der Malerei zugewandt. Im Sommer 1975 nimmt er mit Meret Oppenheim, Erica Pedretti, Urs Dickerhof, Rolf Iseli, Otto Tschumi und anderen an der von Guido Haas eingerichteten Ausstellung Bildende Künstler als Dichter / Dichter als bildende Künstler im Kunstmuseum Bern teil. Zu einem anerkannten Künstler macht ihn das ebenso wenig wie seine vereinzelten Auftritte auf Berner Theaterbühnen. Doch zu diesem Zeitpunkt scheint Carter das gar nicht mehr zu wollen. Sein Interesse richtet sich nun auf altindische Mystik, Meditation und integrale Theorie, für die es in Bern, ohne dass Carter darauf Bezug nimmt, durch Rudolf Maria Holzapfel oder Jean Gebser eine Tradition gab. Für die einen wird Carter so zum Faktotum, für die anderen zur spirituellen Autorität. Spätestens als er und seine Lebenspartnerin Liselotte Haas 1976 dafür sorgten, dass der Swami Muktananda genannte Krishna Rau, Begründer des Siddha Yogas, auf einer seiner Welttourneen Bern besucht.
Carters spirituelle Wende war keine Neuerfindung seiner selbst, sondern eine Fortführung der subjektivistischen Tendenz seiner Literatur – und entsprach dem gegenkulturellen Geist der Zeit. Die hatte allerdings verschiedene, widersprüchliche Gesichter: Am Ende des Jahres 1953 hatten unter den 153 839 Bewohnern der Stadt Bern noch 8600 Ausländer gelebt. Zwanzig Jahre später waren es bei fast gleich großer Bevölkerungszahl 22 597. Die Stadt wurde internationaler. 1963 lief mit dem Brasilianer Amilton de Oliveira der erste nichtweiße Spieler für die Young Boys auf. Um 1970 betrieb die Franko-Afrikanerin Helen Martin an der Gerechtigkeitsgasse eine Boutique. Die Wirtschaftskraft der Schweiz beruhte damals maßgeblich auf der Leistung der herbeigerufenen Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Ausland. Doch mit dem Wohlstand wuchs die Fremdenfeindlichkeit. Im Juni 1970 lehnte die Stimmbevölkerung die sogenannte Schwarzenbach-Initiative zur Beschränkung des Ausländeranteils auf zehn Prozent zwar ab, im Kanton Bern fand das Anliegen jedoch eine Mehrheit.
(…)
«The world is white no longer»
The Bern Book wurde sowohl dies- wie jenseits des Atlantiks wenig wahrgenommen. Obwohl es sich an ein amerikanisches Publikum richtete, hätte das Buch eine politische Wirkung als Migrations- und Integrationsbericht vor allem beim Schweizer Publikum entfalten können, das aber entweder nichts davon wusste oder es mit der Begründung nicht las, zu schlecht Englisch zu können. Dass das Buch zwanzig Jahre brauchte, um überhaupt öffentlich zu werden, lag nicht nur an Carters joycianischem Exil. Die historische Situation in den USA war für seinen verspielten, persönlichen Stil ungünstig. Im Kontext der Bürgerrechtsbewegung war die Rolle schwarzer Autoren von beiden Seiten auf die politisch engagierte Literatur festgeschrieben. (…) Dieser identitätspolitische Rahmen öffnete sich in den 1970er-Jahren etwas. Toni Morrison veröffentlichte The Bluest Eye und brach mit der heroisch-selbstbewussten Revolutionsrhetorik ihrer männlichen Kollegen. Die Verleger ließen nun ein weiteres Spektrum schwarzer Literatur zu. Trotzdem erschien The Bern Book noch auf dem Höhepunkt des Black Arts Movement, dem künstlerischen Arm der Black Power-Bewegung. Deren Forderungen entsprach Carters Voyage of the Mind nicht. Das so langsam entstandene Buch verschwand rasch wieder.
«This world is white no longer, and it will never be white again», schrieb Baldwin als letzten Satz in Stranger in the village. Genau an dem Tag, als Bern sein sechshundertjähriges Bündnis mit der Eidgenossenschaft symbolisch bekräftigte, als sich diese Stadt ihre Vergangenheit vor Augen führte, um eine Zukunft zu entwerfen, wurde Baldwins Wort für sie wahr. Nicht, weil sie seit jenem Tag einen Schwarzen zu ihren Bürgern zählte, sondern weil dieser Bürger Bern zu einem Ort in der amerikanischen Literaturgeschichte, zu einem Ort der schwarzen Literatur gemacht hat. Die es da aber noch nicht, und zwanzig Jahre später, 1973, nur im Verborgenen geben durfte. Und seit diesem Tag ist auch die Berner Literatur nicht mehr weiß.