Interview mit Komponistin Cécile Marti
Seeing Time 5
Eigentlich wollte sie Geigerin werden. Ein Studium am Konservatorium ihrer Heimatstadt Zürich hatte sie bereits begonnen und war auf dem besten Weg, auf ihrem Instrument eine erfolgreiche Karriere einzuschlagen. Doch dann erlitt Cécile Marti während des Studiums einen Hirninfarkt, der zu einer halbseitigen Lähmung und temporären Erblindung führte. Ihre beruflichen Pläne waren zerstört, ihr Leben stand auf dem Kopf. Cécile Marti tauchte ab in die Stille und zog sich weitestgehend aus dem öffentlichen Leben zurück. Nach einer mehrjährigen völligen Musikabstinenz fand sie schliesslich zurück zur Musik und zum schöpferischen Ausdruck – und zu einer neuen Berufung als Bildhauerin und Komponistin. Es folgten Kompositionsstudien in Luzern und London, bei Lehrern wie Dieter Ammann, Julian Anderson, Georg Friedrich Haas und George Benjamin. Seitdem ist Cécile Marti zu einer der erfolgreichsten Komponist*innen der Schweiz geworden, mehrfach preisgekrönt und mit wichtigen Stipendien bedacht. Ihre Werke werden von bedeutenden internationalen Orchestern gespielt und erklingen regelmässig u. a. bei Lucerne Festival, in der Tonhalle Zürich, beim Festival Klangspuren Schwaz, beim reMusik-Festival St. Petersburg oder bei Warsaw Autumn. Auch das Berner Symphonieorchester führte bereits Teile ihres Orchesterzyklus Seven Towers unter der Leitung von Mario Venzago auf.
In ihrem Werk Seeing Time setzt sich Cécile Marti künstlerisch mit dem erlebten Hirninfarkt und ihrem darauffolgenden Transformationsprozess auseinander. Konzipiert ist Seeing Time als Ballett, das aus zukünftig acht Teilen bestehen soll, die in unterschiedliche Phasen des Erlebten eintauchen. Über den fünften Teil, der nun in Bern zur Uraufführung kommt, kam Konzertdramaturg Pavel B. Jiracek mit der Komponistin ins Gespräch.
Nach Ihrem Schicksalsschlag haben Sie sich wieder zurück ins Leben gekämpft ...
… und in die Musik! Nachdem ich nicht mehr selbst musizieren konnte, habe ich ganze fünf Jahre lang auch keine Musik mehr hören können. Ich habe es schlichtweg nicht ertragen. Die komplette Musikabstinenz war für mich damals der einzig gangbare Weg.
Wie haben Sie innerlich die Kraft entwickelt, diese Phase zu überwinden?
Das war ein langwieriger Prozess. Es war auch ein Kampf, den ich ausstehen musste. Nach meinem Infarkt gab es einen Punkt, wo ich mich immer mehr von der Umwelt abgegrenzt habe. Selbst nahe Freundschaften konnte ich lange nicht mehr zulassen. Ich musste in die absolute Stille abtauchen und mich auf diesen Nullpunkt einlassen. In einer Gesellschaft, in der es so oft um Leistung geht, war das eine besondere Herausforderung. Dadurch, dass ich mich viele Jahre lang quasi im Nullzustand befunden habe, ist schliesslich eine neue Not für mich entstanden: Ich habe diese Zeit wie einen Gang durch die Wüste empfunden. Irgendwann aber ist mein Durst, mein Hunger nach geistiger Nahrung so gross geworden, dass ich die sprichwörtliche Fata Morgana vor mir erblickt habe. Meine persönliche Fata Morgana waren die eigenen Klänge, die ich tief in mir gehört habe. Plötzlich verspürte ich das dringende Bedürfnis, diese Klänge niederzuschreiben, was zu ersten physischen Taten führte. Diese bestanden zum einen im Komponieren, zum anderen im Bildhauen. Beides war für mich eine Überraschung: Nie hätte ich mich vorher mit den Berufen Komponistin oder Bildhauerin identifiziert. Diese Kombination ist entstanden – und geblieben.
Inwieweit sind beide Tätigkeiten miteinander vergleichbar, gar komplementär? Bedeutet das Komponieren für Sie auch eine Art Abtasten von Tonräumen im bildhauerischen Sinne?
Absolut! In der Bildhauerei präferiere ich persönlich allerdings einen sehr harten Widerstand. Deshalb arbeite ich beim Bildhauen ausschliesslich mit Stein, nie mit Holz oder Ton. Für mich ist es immer wieder ein Erlebnis, zu sehen, wie eine Form entsteht. Manchmal entwickle ich beim Bildhauen eine Form im Dialog mit dem Stein, taste mich langsam an die Form heran. Manchmal aber habe ich die Form bereits im Vorfeld kreiert und arbeite sie lediglich in den Stein ein. Beim Komponieren verhält es sich ähnlich. Was mich allerdings an der Bildhauerei besonders fasziniert, ist die Dreidimensionalität einer Skulptur und das daraus resultierende haptische Erfahren einer neuen Formschöpfung. Ins Komponieren übersetzt, arbeite ich dieses dreidimensionale Erlebnis in die Musik hinein. Als komplementär erlebe ich die Tatsache, dass beide Kunstformen unterschiedliche Sinne ansprechen: das Sehen (die Bildhauerei) und das Hören (also das Nicht-Sehen, die Musik). Die Kombination von Bildhauerei und Komposition empfinde ich jedenfalls als extrem bereichernd und ergänzend und praktiziere beides gleichermassen.
Man sagt, die Zeit heile alle Wunden. Ihr Zyklus, den wir nun in Bern weiterführen, trägt die Zeit bereits im Titel: Seeing Time. Lässt sich Zeit sichtbar machen?
Das wäre jedenfalls mein grosser Wunsch. Jeder Mensch macht im Leben Erfahrungen, die einen aus der Bahn werfen können – oft für sehr lange Zeit. Ich glaube aber, dass Schicksalsschläge oder Verlusterfahrungen immer auch das Potenzial für eine Transformation in sich tragen – so wie ich es in meiner langen Zeit der Stille erlebt habe. Ich möchte mit Seeing Time anderen Menschen Mut machen, auch in schwierigen Lebensphasen das Positive zu entdecken. Genau davon soll letzten Endes auch das Ballett erzählen.
Wie kam es zu der Entscheidung, Seeing Time als Ballett zu konzipieren?
Ich war in London, wo ich im Rahmen meiner Doktorarbeit über unterschiedliche Verläufe von Zeit geforscht habe. Ich arbeitete dort auch an meinem Orchesterzyklus Seven Towers, der sich ebenfalls mit dem Thema Zeitlichkeit auseinandersetzt. Durch Zufall besuchte ich eine Tanzperformance im Sadler’s Wells Theatre, die mich regelrecht umgehauen hat: das Stück Polaris der kanadischen Choreographin Crystal Pite. Ich war von ihrer Choreographie zutiefst berührt, weil ich spürte, dass Crystal Pite im tänzerischen, sichtbaren Bereich eine ganz ähnliche Sprache spricht und ähnliche Themen verfolgt wie ich in meiner Musik. Diese Tanzperformance hat mir die Augen geöffnet und in mir den Wunsch entstehen lassen, dass auch ich mein Erleben von Zeit – quasi mein Lebensthema – ins Sichtbare bringen möchte, in Form eines Balletts: Seeing Time.
Erste Teile dieses Balletts sind bereits konzertant aufgeführt worden, u. a. von der Basel Sinfonietta, dem Zürcher Kammerorchester oder im Rahmen des Davos Festivals ...
Für mich ist das Werk, formal gesehen, eine Mischung aus Ballett und Geigenkonzert. Die Geige, die in den anderen Teilen des Werks teilweise sehr prominent vorkommt, ist quasi die Primaballerina und steht im Mittelpunkt. Der Zyklus beginnt mit der musikalischen Vertonung meines Hirninfarktes und durchläuft danach verschiedene Phasen der Folgeerfahrungen.
Was erzählt der fünfte Teil von Seeing Time, der nun in Bern uraufgeführt wird?
Der fünfte Teil setzt an dem Punkt an, wo mich meine Kräfte verlassen haben. Ich hatte alle denkbaren Therapien ausprobiert – danach war die Luft raus. Das war der Moment, wo ich entschieden habe: Geige weg, Musik weg, alles weg. Ich habe nur noch die Stille und den inneren Frieden gesucht und mich immer mehr auf den Nullpunkt heruntergearbeitet – mich geleert, mich geläutert. Als ich alles gekappt hatte, bin ich in mich selbst eingetaucht. Und in dieser Phase kamen mir immer wieder erhellende Momente, Momente der Erkenntnis. Diese Phase steht im fünften Teil im Mittelpunkt.
Wie spiegelt sich dies in der Musik wider?
Die Streicher befinden sich in einer Art Vakuum. Sie durchleben die Abstinenz. Allerdings wollte ich dabei keine «Starre» vermitteln, sondern eine Lebendigkeit in der Statik. Alle anderen Instrumente erleben hingegen Momente der Erkenntnis – die über einen längeren Zeitraum hörbar werden. Ein musikalisches Thema aus dem ersten Teil von Seeing Time, das ich «Infarkt-Thema» nenne, greife ich in diesem Teil wieder auf, transformiere es und löse es auf. Das Werk endet in der Erfahrung des Vakuums, das in diesem Stück durchlebt werden soll.
Was erwartet uns in den noch ausstehenden Teilen von Seeing Time?
Die nächsten Teile sind noch nicht komponiert und gerade hinsichtlich der Besetzung kann sich noch einiges bewegen. Fest steht für mich bereits, dass in den weiteren Teilen auch die menschliche Solostimme dazukommt. Und ich weiss, was ich inhaltlich erzählen möchte, wohin die Reise geht. Grob gesagt, geht es in den verbleibenden Teilen um die physische Integration verschiedener Fähigkeiten und um die Frage, was uns Menschen letzten Endes zu Individuen macht. Mein grösster Traum ist es, das fertige Ballett eines Tages gemeinsam mit Crystal Pite und der von mir sehr geschätzten Sängerin und Dirigentin Barbara Hannigan auf die Bühne zu bringen ...
Wie hat sich Ihr Blick auf Ihren Infarkt mit der zeitlichen Distanz verändert?
In das damals Erlebte konnte ich nochmals eintauchen und aus diesem Empfinden Musik schöpfen. Was ich früher als dramatisch erlebt habe, sehe ich rückblickend als grosse Chance. Ich bin dankbar, dass ich durch diesen Schicksalsschlag und seine Folgen die Stille erfahren durfte. Ich hatte Glück, dass diese Klausurerfahrung so früh in meinem Leben geschehen ist. Was von dem Ereignis geblieben ist, ist mein Bedürfnis, immer wieder in das Nichts zurückzukehren – wo ich absolut bei mir selbst sein kann und offen bin für Inspiration. So liebe ich es etwa, aus der Stille der Nacht heraus am frühen Morgen an die Arbeit zu gehen. Für mich geht es jeden Tag erneut darum, mich in einen Nullzustand zu versetzen, aus dem das Schöpferische entsteht.
Spieldaten
60' vor Vorstellungsbeginn
60' vor Vorstellungsbeginn