Seiner Zeit voraus
Dirigent Nicholas Carter im Interview über Nuancen und Schattierungen in Musik und Geschichte von Janačeks Oper Jenůfa.
Rebekka Meyer: Nicholas Carter, was ist die besondere Faszination an Janáčeks Oper Jenůfa?
Nicholas Carter: Die Musik der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert und die Zeit zwischen 1890 und 1920 fasziniert mich grundsätzlich: Richard Strauss, Gustav Mahler, Claude Debussy ... Die Generation um 1900 besteht aus Komponisten, die völlig unterschiedliche Wege eingeschlagen haben und verschiedene Antworten auf die Frage gefunden haben, in welche Richtung Musik sich weiter-entwickeln kann. Den Weg in die Atonalität ging zum Beispiel die Zweite Wiener Schule um Schönberg, Berg und Webern. Andere Kom-ponisten wie Mahler haben volksmusikalische Elemente in ihre Musiksprache aufgenommen. Janáčeks Klangwelt wiederum ist die perfekte Mischung zwischen harmonisch gebunden, modern und individuell – man erkennt seine Musik aus Tausenden sofort wieder.
Wie bei Mahler findet man volksmusikalische Elemente auch bei Janáček; die Aufzeichnung von mährischen Volksmelodien gehörte zu seinem Forschungsinteresse. Inwiefern sind diese Melodien und Lieder in der Partitur präsent?
Interessant ist, dass Janáček und Mahler nicht weit voneinander aufge-wachsen sind, aber ihre Musik vollkommen unterschiedlich klingt – obwohl eben gerade beide auch mit volksmusikalischen Elementen arbeiten. In Jenůfa ziehen sich diese durch das ganze Werk, es kommen sogar einige – allerdings von Janáček erfundene – Volkslieder vor, die auf der Bühne als Lieder gesungen werden. Diese nehmen eine dramaturgische Funktion ein, indem sie Hinweise auf die Figuren und deren Beziehungen geben, so wie beispielsweise Števas derb-anzügliches Lied für Jenůfa im 1. Akt. Sie stechen natürlich besonders hervor. Ausserdem geben sie auch einen Hinweis auf den Realismus der Oper und katapultieren uns aus dem Theater heraus und mitten ins mährische Landleben. Damit wird deutlich: Es handelt sich um echte Menschen mit Musik vom Dorf.
Leicht von der Hand ging ihm das Komponieren nicht und scheinbar hat Janáček im Kompositionsprozess viel mit sich gerungen. Seine Haushälterin meinte sogar, dass es den Anschein hatte, als habe er sich nicht zum Komponieren, sondern zum Kämpfen in sein Arbeitszimmer zurückgezogen.
Janáček hat spät angefangen zu komponieren, und vermutlich quälten ihn die Selbstzweifel. Er hatte tolle musikalische Ideen, aber er hatte offenbar Schwierigkeiten, die Klänge in seinem Kopf zu Papier zu bringen und zu verwirklichen. Die Kompositionsarbeit an Jenůfa erstreckte sich ausserdem über einen längeren Zeitraum, insgesamt zehn Jahre. Zwischen der Entstehung des ersten und des zweiten Aktes lagen einige Jahre, in denen persönlich und musikalisch viel passiert ist: Seine Tochter Olga ist mit nur 20 Jahren verstorben, er hat aber auch intensiv Tschaikowskys Musik und vor allem dessen Oper Pique Dame studiert. Janáček war fasziniert davon, wie Tschaikowsky die melodische Aufgabe dem Orchester übergibt und die Sänger*innen der Sprachmelodie und damit auch ihrem Gemütszustand folgen. In seiner eigenen Arbeit geht er noch einen Schritt weiter: Durch seine Forschung und Aufzeichnungen der tschechischen Sprache gewinnt er ein besonderes
Verständnis für deren natürlichen Rhythmus und Duktus in unterschiedlichen emotionalen Situationen. Indem er dies als Grundlage des Gesangs annimmt, löst er sich immer mehr von den klassischen Formen des Operngesangs. Ab dem 2. Akt ist dies verstärkt hörbar – und damit auch der Zeitsprung in der Entstehung.
Es geht also darum, herauszufiltern, welchen Klang er sich vorgestellt hat, aber nicht richtig niederschreiben konnte?
«Let the music play itself!» funktioniert bei Janáček nicht. Man muss viel arbeiten, bis die Stimmen ausbalanciert sind und die richtige Klangwelt gefunden wird. Ausserdem benötigt man ein gewisses stilistisches Verständnis dieser Musik, damit sie richtig klingt. Man muss sie nicht nur sehr gut spielen, sondern sie eben nach Janáček klingen lassen. Die richtige Richtung von Klang und Stil zu finden, ist meine Kernaufgabe. Es gibt unter tschechischen Dirigenten eine grosse Janáček- Tradition, in der teilweise aber viele Änderungen vorgenommen wurden und neue Fassungen mit einigen Retuschen entstanden. Es ist wichtig, diese für sich einzuordnen und abzuwägen. Janáček arbeitet zum Beispiel oft mit motivischen Wiederholungen, sprachlich wie auch musikalisch. Diese sind jedoch nicht realistisch, sondern wirken eher wie nervöse Ticks. Wenn man sie allerdings streicht, wie das teilweise geschah, nimmt man viel weg.
Was auch damit zu tun hat, dass die Psychologie der Figuren sehr über die Musik funktioniert: Wie sind Generalpausen gesetzt, wann sprechen die Figuren, wann verstummen sie, wann wiederholen sie etwas.
Wenn ich mit den Sänger*innen arbeite, sprechen wir oft darüber, welche Wörter er mit welcher Melodie zusammenbringt. Wir können es nicht wissen, aber es ist wichtig, sich diese Fragen zu stellen, um eine Begründung für unsere Interpretation zu haben. Gerade durch die Wiederholungen charakterisiert Janáček seine Figuren sehr stark. Die Küsterin zum Beispiel ist eine nervöse und angespannte Figur – ihre Wiederholungen haben oft damit zu tun, dass sie sich von etwas zu überzeugen versucht, woran sie selbst zweifelt. Die Geschichte spielt in einem kleinen Dorf, in dem nichts passiert und in dem die Menschen ein normales, konventionelles Leben führen. Auf einer übergeordneten Ebene sieht man allerdings, dass jede Generation das gleiche erlebt (hat). Was Jenůfa mit Števa wiederfährt, hat bereits die Küsterin mit ihrem Mann durchgemacht, ebenso wie die alte Buryja mit ihrem. Die Geschichte wiederholt sich immer wieder, und deshalb tragen auch alle die immer gleichen Namen: Jenůfas leibliche Mutter hiess bereits Jenůfa, und der kleine Števa wird nach seinem Vater benannt. Von Anfang an hört man diese Wiederholungen auch im Orchester, durch das Xylophon, das das Mühlrad nachahmt. Alles wiederholt sich: die Geschichte, die musikalischen Motive, der Text – und eben auch das Schicksal. Jede*r Sänger*in muss für die eigene Figur deren Gründe und Motivationen finden. Die Geschichte erzählt sich nicht nur darüber, was passiert, sondern auch mit welchem Hintergrund. Das ist eine sehr interessante und moderne Form, Theater zu machen, die viele Menschen damals überhaupt nicht verstanden haben. Janáček war seiner Zeit voraus.
Das spiegelt sich auch in den Berichten der Zeitgenossen wider. Ein Janáček-Schüler berichtete von der Uraufführung, dass das Werk musikalisch so neu sei, dass es die Musikstudenten in zwei Lager spaltete: in leidenschaftliche Anhänger und absolute Geg-ner, die sich mit den Wagnerianern deckten. Du dirigierst in dieser Spielzeit beide Komponisten, nach Jenůfa nämlich Wagners Siegfried. Wie ist diese Kontroverse aus der Retrospektive zu beurteilen?
Solche Trennungen werden mit jeder Generation unwichtiger. Die Dispute der Zeitgenossen sind für uns häufig gar nicht mehr nachvollziehbar, das sieht man nicht nur in der Musik, sondern zum Beispiel auch in der Architekturgeschichte. Was war damals modern, was galt als traditionell? Nach hundert Jahren bemerken wir das oftmals nicht mehr, sondern ist nur aus dem Kontext der Zeit zu verstehen. Für mich sind deshalb auch Jenůfa und Siegfried musikalisch natürlich unterschiedlich, aber nicht aus zwei so grundsätzlich verschiedenen Welten, wie das wohl damals empfunden wurde. Wagner und Janáček sind zwar unterschiedliche Wege gegangen, aber retrospektiv rücken sie näher zusammen.
Während es bei Wagner aber um eine mythologisch gross aufgefächerte Erzählung geht, ist die realitätsnahe Geschichte über Jenůfa direkt «aus dem mährischen Landleben» gegriffen, wie die naturalistische Vorlage von Gabriela Preissová auch angibt.
Eigentlich ist es eine grauenvolle Geschichte. Interessant daran ist aber, dass man mit allen Figuren auf der Bühne Mitleid empfindet – vor allem mit der Küsterin, die eigentlich die Täterin ist. Doch es ist nicht alles schwarz-weiss und die Küsterin nicht einfach nur der Teufel. Natürlich ist ihr Tun durch nichts zu entschuldigen – doch hört man die Musik, gewinnt man eine andere Perspektive von Mitleid und Verständnis für sie. Man versteht – ohne es zu rechtfertigen – was sie meint. Selbst Števa, für den man wahrscheinlich am wenigsten Mitleid empfindet, wird so sehr als Mensch mit all seinen Fehlern gezeigt, dass man ihn verstehen kann. Er ist ein Mensch wie du und ich, wir sind alle nicht perfekt. Diese vielen Schattierungen und Nuancen machen dieses Stück erst interessant und werden besonders durch die Musik verstärkt. Wie zum Beispiel in der 3. Szene des 2. Aktes, in der die Küsterin Števa dazu auffordert, seinen Sohn anzuschauen. Die Musik ist unendlich traurig, wenn die Küsterin zu Števa sagt: «Du weinst.» Das ist so echt von Števa und zeigt, dass ihn die Situation und sein Kind doch mehr bewegen, als seine Handlungen und seine Reaktion erkennen lassen. Janáček wollte uns das gesamte Spektrum menschlicher Erfahrungen und Schicksale auf der Bühne präsentieren. Genau wie es schon die antiken Griechen und Shakespeare vor Hunderten von Jahren getan haben.