Eurotrash von Christian Kracht ist ein Feuerwerk der Gleichzeitigkeiten, ein fulminantes Spiel mit Ebenen. Der Roman beginnt dort, wo Krachts Erstling Faserland, als dessen Fortsetzung er gelesen werden kann, aufgehört hatte: in Zürich. Nach der Reise durch das Vaterland in Faserland geht es nun also auf eine Reise ins Mutterland. Eurotrash ist gleichzeitig eine Reise durch die Schweiz wie in die eigene Familiengeschichte und ausserdem eine Hommage an das komplizierte, belebende, enervierende und inspirierende Verhältnis zur eigenen Mutter.
Die Mutter nämlich hatte angerufen, sie will ihren erwachsenen Sohn sehen. Sie ist krank – alkoholkrank, tablettenabhängig und «krank auch im Kopf», wie es im Roman heisst. Sicher ist sie einsam, natürlich ist sie alt. Wieviel Leben trotzdem in dieser Frau steckt, wird auf der Reise deutlich, auf die Christian seine Mutter mitnimmt. Dabei schiebt er den erbetenen Besuch so lange wie möglich auf, spannt bereits in Zürich die imaginäre Landkarte aus familiären Traumata und Abgründen auf, die es zu vermessen gilt: Da gibt es einen Nazi-Grossvater, der in seinem Keller auf Sylt mit isländischen Au-pair-Mädchen Sado-Maso-Spiele praktizierte; die Vergewaltigung seiner elfjährigen Mutter durch einen strammen Nationalsozialisten, der aus diesem Grund nicht belangt werden konnte; die eigene Vergewaltigung in einem kanadischen Internat im Jahr 1979; die undurchsichtigen Geldgeschäfte seines Vater, der trotz allem Reichtum ein Parvenü blieb. Der ganze familiäre und gesellschaftliche Müll eben, der «Eurotrash», wird hier mit schwarzem Fatalismus und glänzender Ironie inspiziert. Trost verspricht nur der selbstgestrickte Wollpullover, den Christian auf der Bahnhofstrasse kauft, aus der hauseigenen Schafzucht einer vegetarischen Kommune, und in dem er schliesslich den Besuch bei der Mutter in Winterthur antritt.
Hier scheint alles genauso zu laufen wie immer: die Mutter bereits leicht angetrunken, Vorwürfe auf den Lippen, im Gesicht die Spuren des letzten Sturzes, der Sohn in der Defensive. Doch angesichts dieser Misere tut sich plötzlich wie ein Geistesblitz ein Ausweg auf. Christian entscheidet, mit der Mutter auf eine Reise zu gehen, «der Zeit einen Anfang zu setzen». Diese Reise verläuft auf der Oberfläche scheinbar ziel- und planlos, auf einer tieferen Ebene aber werden die Stationen der familiären Trauma-Landkarte nachgezeichnet. Es wird abgerechnet, abgeschlossen und losgelassen.
Zuerst holen Mutter und Sohn auf der Bank Geld: 600 Franken schlägt Christian vor, 600‘000 braucht die Mutter, denn ihre Reise soll nach Afrika gehen, zu den Zebras, ein letztes Mal in ihrem Leben. Bei der Gelegenheit lässt sie gleich ihre Waffenaktien in Geld umwandeln und beschliesst, auf der Reise dieses schmutzige Geld loszuwerden. Von Zürich fahren die beiden im Taxi nach Saanen, wo Christian aufgewachsen ist, und bereits beim Besuch in der Kommune, die sich eher als germanischen denn als vegetarischen herausstellt, ist die Mutter nicht wiederzuerkennen. «Ganz offensichtlich tat ihr das Reisen gut», konstatiert Christian. Mutter und Sohn werden auf der weiteren Reise beinahe ausgeraubt, überstehen einen Gondelstopp, sehen zwar kein Edelweiss, dafür einen Fuchs aus nächster Nähe und schaffen es, dass sich ein paar Tausend Franken buchstäblich in Luft auflösen.
Kracht spielt mit zahlreichen Symbolen, mit Selbst- und Fremdzitaten, mit Fragen nach dem Erzählen und dem Erzählten. Dabei geht es aber auch um die Frage nach dem Erinnern und dem Erinnerten. Ist dies eine Geschichte oder Realität? Erinnerung oder eine Erzählung? Im Kontext der Demenzerkrankung der Mutter wird aus den Verknüpfungen und Verwirrungen ein unentspinnbares Gewebe von eigenen und fremden Erinnerungen, angelesenen Zitaten und verschütteten Bildern – und gleichzeitig ein Bild für ein alterndes, demenzkrankes Hirn. «Wahrheit oder Fiktion?», fragt Christian die Mutter auf deren Bitte, ihr etwas zu erzählen. «Das ist mir egal», antwortet sie. Und natürlich ist das so. Wenn die Mutter am Ende schliesslich in Afrika ist, wohin sie die ganze Zeit wollte, ist das ihre Wahrheit und für sie real.
Denn auf dieser Reise, egal wo sie nun hinführte, wurde etwas gelöst, aufgelöst und erlöst – nicht nur die schmutzigen Gewinne aus den Waffenaktien. Und wenn die Mutter zu ihrem letzten Gang in die afrikanische Steppe aufbricht, auf der Suche nach den gestreiften Hinterteilen der Zebras, ist nicht nur eine Geschichte zu ihrem Ende gekommen. Dann ist das eine bewusste, selbstbestimmte Entscheidung der Mutter für ein Ende – des Buches wie des Lebens.
von Felicitas Zürcher