ist 1995 in der Schweiz geboren und studierte ab 2017 Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater in Lepizig. Neben seiner Tätigkeit als festes Ensemblemitglied des Staatsschauspiels Dresden gründete er das Kollektiv imago mimikri und erarbeitet eigene projekte. Nach seiner Inszenierung von Bilder deiner grossen Liebe an der Bühne Aarau inszeniert er in der Spielzeit 2024/25 am Schauspiel Bern die Uraufführung von Ralph Tharayils Debütroman Nimm die Alpen weg.
Ralph Tharayil und Marin Blülle im Gespräch über Nimm die Alpen weg
Vier Tage nach dem Beginn der Proben zu „Nimm die Alpen weg“ ist der Autor Ralph Tharayil zu Besuch. Das Gespräch, das seit Monaten über Skype, in Kaffees oder per Mail geführt wurde, geht an diesem Tag auf der Probe und beim Mittagessen weiter. Gegen Abend verabreden sich Ralph Tharayil, der in der Spielzeit 2024/25 auch Hausautor beim Schauspiel Bern ist, und der Regisseur Marin Blülle zu einem weiteren Gespräch über das Buch, den Probenstand, Wünsche und Fantasien zum Text und der Inszenierung.
Ralph Tharayil: Ich habe heute das erste Mal eure Proben besucht und war überrascht, wie alle über ihre eigene Kindheit gesprochen haben. Mit wem sind sie aufgewachsen, wie sie das eigene Verhältnis zu ihren Geschwistern erlebt haben. ES ging gar nicht um Fremdsein oder ein Aufwachsen in der Schweiz, sondern um Aufwachsen generell, und die Frage, was das für einen Schmerz mit sich bringt, für eine Freiheit, für eine Schönheit. Kindheit ist ja etwas, das man gerne umschreiben würde. Oder neu schreiben würde, um diesen Gründungsmythos neu zu definieren – für sich selbst. Vielleicht ist dieses Buch Nimm die Alpen weg ja ein Versuch, diesen Gründungsmythos darzustellen. So würden Kinder vielleicht über Kindheit schreiben, wenn sie es könnten. Alle haben sich in das Gefühl reinversetzt, noch gar nicht in den Text. Ich habe das fast ein bisschen unterschätzt, wie viele Gefühle da im Spiel sind.
Marin Blülle: Es ist schon mein Anliegen, dass die Beteiligten der Inszenierung ihre eigenen Geschichten als Anschlussstelle verstehen für diesen Roman, damit nicht die Furcht entsteht, für jemanden zu sprechen, für den oder die man nie sprechen kann. Für mich sind diese ersten Probenwochen dazu da, Körper zu werden, und dann erst Sprache. Dann wird es irgendwann Körpersprache, oder ein Sprachkörper. Wie bei Kindern, die sich ja auch erst einmal als Körper wahrnehmen, und dann erst die Sprache entdecken. Oder diese Kinder in deinem Buch.
Ralph Tharayil: Ich habe beim Schreiben tatsächlich viel über die Sprache dieser Kinder als Körpersprache nachgedacht. Als eine Sprache, die sich über den Körper definiert, und einen Körper, der sich über Sprache definiert. Dies geschieht manchmal auch über eine Negation: Die Dinge sind für uns nicht so, also müssen sie so sein. Diese Kinder versuchen, sich als Gleichgemachte zu befreien. Nimm die Alpen weg ist ja gesetzt wie ein Gedicht, die Sätze brechen ab, man könnte meinen, der Text ist ein Langgedicht. Gleichzeitig ist es ein Roman, er erzählt eine Familiengeschichte, über mehrere Jahre. Das Format, die Leerzeilen evozieren eine Stille. Diese Stille zu empfinden beim Lesen ist natürlich etwas ganz Anderes als Stille im Theater auszuhalten, still sein zu müssen.
Marin Blülle: Ich wünsche mir sehr, dass wir den Mut haben, diese Lücken, die du über die Formatierung im Text gesetzt hast, auch offen zu lassen. Vielleicht entsteht eine Stille im Sinne eines Wartens: Was kommt jetzt? Wer kommt jetzt? Ich glaube, etwas vom ersten, was ich dir geschrieben habe, war: „Dieser Text bewegt mich. Im doppelten Sinne.“ Dieser Rhythmus ist für mich sehr besonders. Ich glaube, als Schauspieler habe ich ein Gespür für die Musikalität eines Textes, und deinen Text finde ich so dankbar, er klingt direkt in mich als Leser hinein.
Ralph Tharayil: Oh, danke, das ist ja ein schönes Kompliment. Mich berührt das immer, wenn ich den Eindruck habe, dass jemand etwas aus einem Text herausdestilliert hat, ein Gefühl, einen Umstand, der etwas mit mir zu tun hat. Theater hat ja immer viel mit Zugehörigkeit zu tun, und somit auch mit der Frage, was für wen mit welchem Zweck gespielt wird. Ich war gerade drüben im Stadttheater. Es gibt etwas, was mich in diesen Raum zieht, und das ist die Gemeinschaft. Ich stand am Rand des Eingangs zum Theaterraum und hörte dem Orchester zu, das gerade dabei war, sich einzuspielen. Was für ein unglaublicher Klang, ich könnte stundenlang zuhören. Aber danach: Siegfried. Ich frage mich immer wieder: Gehöre ich dazu? Will ich da dazugehören? Wagners Kultur, sie bleibt mir fremd und auch das Theater hat für mich lange nicht Zugehörigkeit ausgestrahlt. Das hat mit meiner Sozialisierung zu tun, damit, dass meine Eltern nicht aus Europa kommen, dass meine erste Sprache nicht Schweizerdeutsch war. Für mich waren die schönsten Erlebnisse im Theater jene, bei denen ich das Gefühl hatte, ich gehöre hier vielleicht nicht dazu, und am Ende war ich derjenige, der am längsten geblieben ist. Und diese Erfahrung wünsche ich diesem Text und vor allem den Kindern im Text auch auf der Bühne: dass er eine Einladung ausspricht, Gemeinschaft gemeinsam zu verhandeln, dass diese Art von Gemeinschaft entsteht, das Gefühl, dass mich das etwas angeht.
Marin Blülle: Die Entscheidung für diesen Text fiel ja, nachdem ich in Bern war und mir die Vidmar 2 angeschaut habe. Ich bin aus den Vidmarhallen gekommen und habe in die Quartiergärten geschaut. Und als ich auf dem Heimweg nach Dresden im Zug in deinen Text reingelesen habe, war das ein starkes Gefühl, dass dieser Text hierher passt. Diese Entscheidung freut mich gerade jeden Tag. Und ich hoffe, dass diese Intuition und ehrliche Intention sich auf andere Menschen überträgt.
Ralph Tharayil: Nach den ersten Lesungen habe ich mich gefragt, ob das eigentlich nur ein Buch für Menschen ist, die selber schreiben. Aber zum Glück gab es auch Reaktionen von Menschen, die sich trotz der Form auf den Text einlassen konnten.
Marin Blülle: Die Form und der Rhythmus des Textes wird auf jeden Fall eine Rolle spielen, aber es ist nicht in erster Linie die Form, die mich anspringt. Die Form entspricht für mich schon sehr dem Inhalt.
Ralph Tharayil: Ich glaube, der Text bietet auch verschiedene Rampen. Gerade eben, als ich den Text zum ersten Mal vom Ensemble gelesen hörte, war es sehr überraschend. Ich weiss ja ganz genau, wie ich ihn höre, und das war jetzt komplett anders, das finde ich sehr schön. Es ist ja keine Partitur, es gibt sehr viel Spielraum. Es gab Leute, die mir gesagt haben, ich hätte einfach ein Stück geschrieben und behautet, es sei ein Roman. Auf jeden Fall wird es jetzt eine Inszenierung, und ich bin sicher, dass es mich überraschend wird!