Bio
Klingendes Schauspiel
Regisseur Marco Štorman und der musikalische Leiter Nicholas Carter im Gespräch mit Dramaturgin Rebekka Meyer
Rebekka Meyer: Marco Štorman, als du die Oper Arabella kennengelernt hast, hast du dich sofort in das Stück verliebt. Was hat dich daran so fasziniert?
Marco Štorman: Ich finde, Richard Strauss und der Librettist Hugo von Hofmannsthal sind einmalig in ihrer Symbiose aus Text und Musik. Meiner Meinung nach gibt es in der Musikgeschichte eine so geniale Zusammenkunft eines Autors und eines Komponisten nicht nochmal.
Rebekka Meyer: Strauss und Hofmannsthal verband eine lange Zusammenarbeit, sie haben mehrere Opern zusammen verfasst, neben den beiden erwähnten auch Elektra oder Ariadne auf Naxos. Sie endete 1929 sehr abrupt mitten in der Arbeit an Arabella aufgrund von Hofmannsthals frühem Tod. Was ist das Besondere an dieser künstlerischen Partnerschaft?
Marco Štorman: Die Worte klingen und der Klang spricht. Der klare Text Hofmannsthals wird von Strauss’ Musik psychologisiert, aber in einem dialogischen Sinn. In der Präzision ist das wie klingendes Schauspiel. Das Besondere an den gemeinsamen Werken ist, dass man ganz fein gezeichnete Menschen sieht. Strauss und Hofmannsthal schaffen es, etwas Urmenschliches zu kreieren. Man versteht alle Figuren immer in jeder Sekunde.
Nicholas Carter: Ausserdem spürt man, dass Strauss einen unglaublichen Instinkt für das Bühnentiming hatte. Es gibt kaum einen Moment, in dem man denkt, dieses Zwischenspiel oder diese Musik ist ein Hauch zu lang oder zu kurz. Jede Geste ist genau richtig beschrieben und das Timing davon ist immer perfekt.
Marco Štorman: In der szenischen Arbeit bringt das grossen Spass. Schon in der Vorbereitung des Stücks merkt man, wie hier ein Uhrwerk klackert, bei dem man nicht nachdrücken muss.
Nicholas Carter: Gleichzeitig nimmt sich das Stück nicht so ernst, im Gegensatz zum Beispiel zu Wagners Opern. Arabella bekommt durch diese Präzision eine Beiläufigkeit oder fast Oberflächlichkeit, aber im positiven Sinne!
Rebekka Meyer: Strauss und Hofmannsthal wollten mit Arabella «einen zweiten Rosenkavalier ohne dessen Schwächen und Längen» entwerfen. Nun wird Arabella vorgeworfen, bloss ein oberflächlicher Abklatsch des Rosenkavaliers zu sein, ohne den Tiefgang von dessen Figuren.
Nicholas Carter: Ursprünglich wollten Strauss und Hofmannsthal in diese Rosenkavalier-Welt zurückgehen. Gleichzeitig hatten sich die Zeiten verändert; der Rosenkavalier ist 1909–1911 entstanden, Arabella erst Ende der 1920er-Jahre. Hofmannsthal sah, was kulturell rundherum in Europa passiert ist: Arnold Schönberg hat die Zwölftonmusik entwickelt, die klassische Musik bewegte sich immer mehr in Richtung dissonanter Musik. Strauss hingegen wollte etwas Operettenhaftes schreiben. Er fand es wichtig, dass die Menschen auch leichte Musik erleben konnten ...
Marco Štorman: ... und damit nahbare Musik. Ich finde das Stück gar nicht unterkomplex. Während der Rosenkavalier zur Hochzeit des Rokokos spielt und man ein SahneBaiser neben dem anderen sieht, sind wir bei Arabella mitten im Untergang einer Welt. Deshalb ist es toll, diese Stücke nebeneinander zu stellen. Im Rosenkavalier stimmt das ganze Umfeld: eine reiche, in sich geschlossene, schöne Gesellschaft, die hinter der Fassade an der eigenen Vergänglichkeit zerbricht. In Arabella brechen die Fassaden nun selbst auseinander: Man sieht diese Figuren, wie sie noch versuchen, sich an den Regeln festzuhalten, oder wie sie merken, dass sie nun neue Regeln aufstellen müssen. Was Rollenbilder und Familienbilder angeht, kurz: auf das Menschliche bezogen, ist Arabella letztlich das viel modernere Stück.
Rebekka Meyer: Wie schon erwähnt, ist das Stück sehr dialogisch angelegt. Was heisst das für die szenische Arbeit, für das Zusammenspiel der Sänger *innen untereinander, aber auch für das Zusammenspiel mit der Musik?
Marco Štorman: In der szenischen Arbeit ist das viel einfacher, weil sich alles organisch ergibt. Die Aufgabe ist es, einen Ausdruck zu finden, der in der Technik des Opernsingens das Sprechen mitdenkt. Ausserdem muss man total wach sein, weil sonst der Rhythmus der Dialoge nicht mehr stimmt. Ich denke, das ist die Schwierigkeit für die Sänger*innen: Dass man es fast rezitativisch in der Logik und in der Art des Spielens denken und trotzdem gleichzeitig diese Strauss-Musik singen muss.
Nicholas Carter: Man merkt das auch in der Geschichte der Aufnahmen: Es gibt fast zwanzig Aufnahmen von dem Werk über die letzten neunzig Jahre. Früher war es Tradition, das Stück etwas flotter zu dirigieren und fast im Parlando zu singen. Gleichzeitig mit dem Aufkommen der Plattenindustrie rückte die Klangschönheit immer mehr in den Vordergrund – einige Dirigenten haben jeden schönen Moment ausgekostet. Das ist aber eigentlich nicht gemeint. Ich versuche eher mit dem Gedanken ranzugehen: «Let it unfold!» («Lass es sich entfalten!») Man muss es stattfinden lassen und gar nicht so viel tun, um das Drama zum Leben zu erwecken. Das sage ich auch zum Orchester: Gerade die romantischen Melodien darf man nicht wie Tristan und Isolde spielen, sondern eher gegen den Impuls, es nicht zu sehr auskosten, sondern fast «drüberspielen». Don’t add sugar to honey! («Dem Honig keinen Zucker hinzufügen»)
Rebekka Meyer: Richard Strauss schrieb 1934, also ein Jahr nach der Arabella-Premiere an Stefan Zweig: «Muss man 70 Jahre
alt werden, um zu erkennen, dass man eigentlich zum Kitsch die grösste Begabung hat?» Ist Arabella kitschig?
Nicholas Carter: Meiner Meinung nach ist das Stück überhaupt nicht kitschig, aber das hat vielleicht auch mit meiner angelsächsischen Definition von Kitsch zu tun. Für mich ist Kitsch billige Emotion, und das ist es auf keinen Fall. Die Beziehungen und Themen sind so echt behandelt und die Musik ist echt berührend. Strauss hat nie schöne Melodien geschrieben, einfach nur so, weil sie schön sind, sondern es gibt immer eine Begründung für diese Klangschönheit. In Salome und Elektra ist er in Bezug auf die Tonalität natürlich sehr weit gegangen, aber er hat gemerkt, dass er das nicht will. Er wollte in eine andere Richtung, denn die harmonische Musik war nahbarer für ihn.
Marco Štorman: Der gute Kitsch hat ja immer etwas mit Sehnsucht zu tun. Und diesen Kitsch gibt es hier in Reinform. Den Wunsch, um eine Form von Erlösung in einer Begegnung.
Rebekka Meyer: Im Vergleich zu anderen Strauss-Werken ist der Orchesterklang transparent und zurückgenommen, um die Stimmen in den Vordergrund zu stellen und den Parlandostil zu ermöglichen.
Nicholas Carter: Strauss hat gesagt, dass man seine Musik dirigieren müsse, als ob es Mozart wäre.
Marco Štorman: Er hat einfach eine ungemein menschliche Basis für seine Stücke. Die sind viel näher an mir dran, die berühren mich viel mehr als zum Beispiel Wagner. Strauss ist Teilen.
Nicholas Carter: Und gerade in diesem Sinn, im Menschlichen, ist Strauss auch viel mehr Mozart.
Rebekka Meyer: Es sind also sehr menschliche und auch sehr realistische Figuren, denen wir auf der Bühne begegnen. Im Libretto sind Zeit und Ort erstmal sehr konkret, nämlich in Wien um 1860 – gezeichnet wird eine hedonistische, champagner-trinkende Gesellschaft, die sich schon im Niedergang befindet. Darin muss sich die Familie Waldner behaupten, deren Vermögen der Vater verspielt hat und die nun auf eine reiche Verheiratung der Tochter Arabella hofft. Wo ist diese Familie in der Inszenierung verortet und wie holt man sie ins Heute?
Marco Štorman: Ich muss gar nicht viel machen, sie ins Heute zu holen, denn scheinbar hat sich in den letzten hundert Jahren in Familien und Paarstrukturen gar nicht so viel verändert. Die Grundfragen bleiben dieselben: Was ist Familie? Was für Kämpfe werden in Beziehungen ausgefochten? Wie hält Familie im entscheidenden Moment doch zusammen? Dafür steht die Familie Waldner exemplarisch: Theodor Waldner interessiert sich nur für das Glücksspiel und möchte selbst seine Tochter verschachern, Adelaide verliert sich in einer spirituellen Welt, doch im entscheidenden Moment halten die beiden zusammen: Wenn es gegen die eigene Tochter geht und Mandryka Arabella unterstellt, ihn betrogen zu haben. Obwohl man in der Familie oder Beziehung so Hartes mit und aneinander anrichtet, bleibt man trotzdem beisammen und bildet auch im entscheidenden Moment eine Einheit gegen das Chaos ausserhalb der eigenen Struktur. Da sehe ich die Parallele zum zerfallenden Wien Ende des 19. Jahrhunderts: Wir sind heutzutage in einer ähnlich aufgeregten und hysterischen Zeit und müssen uns dazu verhalten, ob die Zeit wirklich viel krisenhafter ist als sonst oder ob diese Krisen vielleicht immer da sind, uns aber nähergekommen sind. In dieser Unruhe beginnen die Menschen sich wieder auf die kleinen Mikrokosmen zu besinnen. Welche Kämpfe führt man in Beziehungen? Wie demütigt man sich in einer Beziehung? Wie wollen wir die Begriffe von Familie und Partnerschaft überhaupt definieren: Wie offen sind die? Was für Formen gibt es? Alle diese Fragen sind in dem Stück bereits drin.
Rebekka Meyer: Vertreten die unterschiedlichen Figuren denn unter-schiedliche Konzepte von Liebe oder unterschiedliche Arten zu lieben? Mandryka hat sehr mit Misstrauen und Vertrauen in der Beziehung zu kämpfen. Arabella kann – vor allem im 3. Akt – sehr klar formulieren, wen und was sie will. Zdenka opfert sich in ihrer Liebe zu Matteo völlig auf.
Marco Štorman: Ja, aber alle arbeiten sich am gleichen Bild von Liebe ab: dem klassischen, christlichen und romantisch aufgeladenen Bild von «Mann liebt Frau und ist auf ewig verheiratet». Ich würde behaupten, dass wir uns alle an diesem Bild abarbeiten. Jede Entscheidung, anders zu lieben, ist eine Entscheidung gegen dieses Bild. So haben die Figuren zwar unterschiedliche Konzepte, aber sie kämpfen alle, weil sie das klassische Konzept nicht erfüllen oder sich daran reiben.
Rebekka Meyer: Schaffen es die Figuren denn, sich von diesem Ideal zu lösen und wirklich damit zu brechen?
Marco Štorman: Nein, es sind Variationen desselben Bildes. Über allen Beziehungen in diesem Stück steht letztlich eine grosse Überschrift des ‹Trotzdem›. Adelaide und Waldner bleiben trotzdem zusammen, obwohl sie im Laufe der Jahre Enttäuschungen angehäuft haben. Zdenka und Matteo bleiben trotzdem zusammen, obwohl Matteo in ihre Schwester verliebt war. Arabella und Mandryka überspringen jede Form von romantischer Verliebtheit. Stattdessen folgt sofort die Eifersucht und damit eine enorme Zerstörung und Demütigung, die eigentlich frühestens nach einigen Jahren Beziehung das erste Mal passiert. Und trotzdem verzeiht Arabella und trotzdem bleiben sie beieinander. Ich glaube, das ist das Harte am Leben, dieses Trotzdem, dieses Klischee-Bild der romantischen Liebe.
Rebekka Meyer: Arabella wird dabei auch sehr vielschichtig gezeichnet: einerseits als eine moderne Frau, die sehr klar formuliert und fordert. Andererseits träumt sie immer wieder von der totalen Unterwerfung, wie im Duett mit Mandryka «Und du wirst mein Gebieter sein» oder die Zeile im Duett mit Zdenka «Und dann bin ich gehorsam wie ein Kind». Ist das auch ein Ideal der romantischen Liebe?
Nicholas Carter: Schon bei unserem ersten Gespräch über das Stück haben wir über diese Textstellen gesprochen. Gerade mit dem Gattungstitel der lyrischen Komödie stelle ich mir immer wieder die Frage nach der Ironie. Doch obwohl es komische Momente gibt, ist die Oper eher ernsthaft denn komödiantisch. Die Kunst ist, herauszufinden, wo diese komischen Momente sind.
Marco Štorman: Für mich ist dies ein Moment, der das Klischeebild präsentiert. Es gibt umgekehrt auch die Überhöhung: Du wirst Kaiserin sein und ich Kaiser. Arabella ist eine Figur, die ihr eigenes Denken, ihre Träume und Sehnsüchte sofort hinterfragt und abgleicht mit der Wirklichkeit. Das wird von mir erwartet, doch bin ich das?
Rebekka Meyer: Zdenka/Zdenko ist als Hosenrolle in dem Sinne ungewöhnlich, dass die als Mann verkleidete Frau bereits ins Stück eingeschrieben und keine rein stimmliche Vorgabe oder Vorliebe ist.
Nicholas Carter: Strauss’ Inspiration dafür waren sicherlich die Hosenollen in Mozarts Opern, vor allem Cherubino in Le nozze di Figaro – diese Tradition wollte er weiterentwickeln. Sicherlich fand er die Chemie dieser beiden Frauen auf der Bühne spannend und bestimmt hat er den Klang der beiden Sopranstimmen sehr geliebt. Besonders gut hört man dies im Duett von Zdenka und Arabella im 1. Akt.
Marco Štorman: Aus heutiger Sicht fand ich schon beim ersten Lesen interessant, dass Zdenka zu Arabella im 1. Akt sagt, dass sie auf keinen Fall eine Frau sein möchte, wie sie eine ist, und für immer ein Mann bleiben werde. In dieser Aussage steckt natürlich drin, dass man als Mann leichter durchs Leben kommt, aber auch die Frage, was Geschlecht überhaupt bedeutet. So taucht Zdenka in meiner Vorstellung am Schluss wieder als Zdenko auf, in einer Form von Outing: Ich habe mich entschieden, nicht Zdenka zu sein, sondern Zdenko. Das ist das Spannende an der Beziehung von Matteo und Zdenka: Dass Matteo im letzten Akt realisiert, dass er bereits in Zdenko verliebt war, und nicht erst jetzt in Zdenka.