Narrenfreiheiten von Elisa Elwert
Wenn sie stolpert, steht sie wieder auf. Wenn sie weint, erfüllt ihr Kummer das ganze Geschehen. Wenn sie staunt, scheint die Zeit stillzustehen. Gelsomina ist eine von Fellinis aussergewöhnlichsten Figuren. Sie scheint nicht ganz von dieser Welt zu sein, mit einer grossen Zuneigung und Wärme begegnet sie den Menschen. Sie lässt sich überraschen und berühren. Sie bewundert, was um sie herum geschieht, im wörtlichen Sinne: Sie hat Augen für die Wunder des Einfachen, am Rand des Geschehens.
Im Vorwort zum Drehbuch seines Meisterwerkes La Strada von 1954 beschreibt Fellini den Film gleichermassen als «Sage von der verratenen Unschuld», wie als «Wunsch nach einer heiteren Welt». Der Film erzählt die Geschichte ihrer Reise an der Seite Zampanòs – eines prahlenden Kraftprotzes. Und selbst diesem riesigen, scheinbar gefühlslosen Mann begegnet sie mit Wärme, Zuneigung und Vertrauen, ihm, der alles niederzumähen scheint, was ihm im Weg steht – auch Gelsomina selbst. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich: Zampanò kann die Welt und sich selbst kaum ertragen, er ist endlos bedürftig an Nähe und Gefühlen. Der massige Mann leidet gewissermassen an der eigenen Schwerkraft und ist angewiesen auf Gelsomina. Sie bedeutet ihm die Lebensfähigkeit. Als sie angesichts des Mordes von Zampanò am Narr Matto zerbricht und ihn verlässt, bricht er gleichermassen zusammen. Die Geschichte einer Ko-Abhängigkeit, die innerhalb gewohnter Geschlechterbilder ihren tragischen Verlauf nimmt – sie läuft nicht weg, obwohl sie könnte, erträgt, was nicht ertragbar sein kann – gewinnt durch einen clownesken Kniff von Fellini an universeller Bedeutung und existenzieller Grösse.
Fellini widmete La Strada seiner Frau und Schauspielerin Giulietta Masina und gestaltete den Film zur Ode an den Clown. Die Liebe Fellinis zum Zirkus und zur Clownfigur nimmt mit dem Film Form an und sollte für seinen Filmerfolg wegweisend werden. Clowns verkörpern für Fellini zwei Prinzipien, die Poesie und das Irrationale einerseits und den Widerstand gegen eine höhere Ordnung andererseits. Für Fellini sind Clowns die ersten und ältesten Figuren des Protests, sie stehen für das, was in jedem Menschen gegen die höhere Ordnung rebelliert. Der klassische Zirkus kennt die Dialektik zwischen dem Weissclown und dem August: Der Weissclown verkörpert die Gesellschaft, die Norm und die Autorität. Der August lehnt sich dagegen auf. «Er ist ein konstruktiver Anarch», schreibt Kulturwissenschaftler Constantin von Barloewen in seiner Phänomenologie des Stolperns. «Der Clown ist Ausdruck eines poetischen Lebensentwurfs, eine philosophische Figur, eine existentielle Metapher. Er ist der letzte Humanist: Er stolpert, er fällt und in dem Mass, in dem er fällt, steht er wieder auf und zeigt damit menschliche Grösse. Der Clown weist uns auf die Abgründe menschlicher Existenz hin, aber er zeigt auch, dass nach dem Sturz eine andere Variante des Aufstiegs möglich ist.»
Dieses utopische Potential geht Hand in Hand mit dem Staunen des Clowns. Ernst Bloch beschrieb das Staunen als utopisches Denken, als politischen Akt mit revolutionärem Potenzial. Und Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess führt aus, Staunen mache das Gewöhnliche fragwürdig im besten Sinne. Es fungiere als Irritation, im Heraustreten aus dem normalen Gang der Dinge. Für sie ist das genaue Hinsehen, diese ratlose Verwunderung, der Keim einer möglichen Veränderung.
Wenn wir La Strada wie Fellini als Märchen begreifen, die Figuren als Märchenfiguren, die für übergeordnete Lebensprinzipien stehen, dann lehrt uns Gelsomina das: Indem sie dem autoritären und gewaltvollen Weissclown Zampanò nach einem Sturz immer wieder entgegentritt, ihn nicht laufen lässt und immer wieder neu über dieses Leben staunt, eröffnet sie die grosse Frage: Wie könnte es anders sein? Wie sähe die Welt aus, wenn wir ihr in Liebe begegneten? Was kann das Leben uns sagen, wenn wir es – nach dem Hinfallen – kopfüber betrachten? Und bestaunen? Es mag Gelsomina naiv erscheinen lassen. Vielleicht ist sie aber vielmehr radikal utopisch und frei.
«Ich glaube alles, was man mir sagt. Meine Fähigkeit zu staunen ist unbegrenzt. Ich hüte mich, die Möglichkeiten der Fantasie irgendwie einzuschränken. Es ist nicht meine Sache, Ordnung in das alles zu bringen. Meine eigene Welt ist verworren und wechselvoll. Ich nehme das Recht für mich in Anspruch, mir selber zu widersprechen und bitte um die Erlaubnis, mich dann und wann zu irren.»
Federico Fellini