Bis das Herz zerreisst

Manon Lescaut – Bis das Herz zerreisst
Die musikalische Leiterin Alevtina Ioffe im Gespräch mit Dramaturgin Rebekka Meyer

Rebekka Meyer: Alevtina Ioffe, du trittst deinen neuen Posten als Chefdirigentin der Oper Bern mit Puccinis Manon Lescaut an. Weshalb hast du dafür gerade diese Oper ausgewählt?

Alevtina Ioffe: Unter allen Opern Puccinis ist diese für mich die innigste. Deshalb wollte ich meinen Weg mit ihr beginnen – mit einem Werk, das ich von Herzen liebe. In dieser Musik verschmelzen ungestüme Leidenschaft, zarte Sanftheit und eine tiefe Dramatik. Und solange in mir die Kraft brennt, all dies selbst zu durchleben, möchte ich dieses Feuer an das Publikum weitergeben, damit es uns im gemeinsamen Atem vereint.

Rebekka Meyer: Was ist die grösste Herausforderung dieses Werks?

Alevtina Ioffe: Die grösste Herausforderung in allen Opern Puccinis besteht – paradoxerweise – darin, genau das umzusetzen, was er in die Partitur geschrieben hat. Seine Anweisungen ändern sich fast in jedem Takt: beschleunigen, verlangsamen, ein wenig mehr, ein bisschen weniger ... Solche feinen Nuancen konnte nur ein Mensch von aussergewöhnlicher Sensibilität niederschreiben.

Die eigentliche Schwierigkeit liegt jedoch darin, dieses bewegliche Pulsieren in das Orchester hineinzutragen – sechzig Musiker*innen so zu führen, dass sie in einem gemeinsamen, unvorhersehbaren Atem musizieren. Dafür muss man sich auf dieselben Schwingungen einstimmen, sich mit der Musik und miteinander tief verbinden und alle mitnehmen.

Rebekka Meyer: Dramaturgisch ist die Oper ziemlich fragmentarisch, es gibt viele Lücken in der Erzählung. Wie schaffen es Puccini und seine Librettisten, dass das Publikum der Geschichte trotzdem folgen kann?

Alevtina Ioffe: Ich glaube, dass Puccini und sein Librettistenteam bewusst die dramatischsten Episoden aus dem Roman von Prévost ausgewählt haben, um die Emotionen der Figuren in möglichst konzentrierter Form darzustellen. Dabei spielt es keine Rolle, wie viel Zeit vergangen ist oder wohin die Handlung sich entwickelt – der rote Faden der Oper, Liebe und Leidenschaft, verbindet alle vier Teile unauflöslich miteinander.

Rebekka Meyer: Für Puccini war die Psychologie seiner Figuren sehr wichtig. Er sagte, dass er – im Vergleich zu Massenet – die Geschichte als Italiener empfinden würde, «con passione disperata».

Alevtina Ioffe: Ich denke, dass Puccini, als er diese Geschichte «con passione disperata» empfand, seine Emotionen auch aus seinem eigenen Leben schöpfte, das in jener Zeit von einer enormen inneren Anspannung geprägt war. Er lebte mit einer verheirateten Frau, und sie erwarteten ein Kind. Auf dem Spiel stand nahezu alles: der Sinn des Lebens, die Liebe und die Frage nach Akzeptanz oder Ablehnung in der Gesellschaft. Deshalb wurde diese Oper für ihn etwas sehr Persönliches – und gerade darum ist die Intensität der Leidenschaft sowohl bei den Sänger*innen als auch im Orchester bisweilen so stark, dass sie das Herz förmlich zerreisst.

Rebekka Meyer: Hat diese Intensität auch mit der teilweise sehr realistischen Zeichnung von Charakteren und Situationen zu tun, wie beispielsweise im dritten Akt?

Alevtina Ioffe: In dieser Oper erreicht Puccini einen erstaunlichen Realismus. In der Szene der Deportation im dritten Akt wird der Chor nicht nur zum Kommentator, sondern selbst Teil einer Menschenmenge – mit all ihrem Hohn, ihrer Grausamkeit, ihrem Mitgefühl und ihrer Neugier. Für mich ist dieses Ensemble jedoch mehr als blosse Beschreibung einer Realität: Mit seinen grossen Höhepunkten bildet es die eigentliche dramaturgische Spitze der Oper.

Wenn der Frauenchor lacht, klingt das nicht wie ein Lachen, sondern wie Ausbrüche oder Schluchzer, die doppeldeutig verstanden werden können – darin zeigt sich die ganze Tiefe der Verzweiflung und dem Leid der Figuren. Im Gegensatz dazu führt uns das Lied des Laternenanzünders wieder in die Realität zurück und entlädt die Spannung.

Rebekka Meyer: Die Titelfigur Manon ist die einzige Frauenfigur der Oper. Sie macht vom Anfang bis zum Ende eine grosse Entwicklung durch, die im letzten Akt in ihrer Arie «Sola, perduta, abbandonata» gipfelt. Was macht diese so besonders?

Alevtina Ioffe: Diese Arie nimmt den späteren Existentialismus vorweg. Wer bin ich? Warum bin ich hier? Was ist der Sinn des Lebens? Es ist nicht einfach eine Arie, sondern ein Bekenntnis, das alle Ängste und unerfüllten Hoffnungen eines jungen Mädchens offenlegt, das in Versuchung geführt wurde und dennoch die reine, hingebungsvolle Liebe gewählt hat.

Allein mit sich selbst, noch ganz jung, erschöpft, sterbend, erhebt sich die Frau durch das Bewusstsein ihres Schicksals und durch unerträgliches körperliches und seelisches Leiden zur höchsten Tragik. So verwandelt sich die Gestalt der Manon im Laufe der Oper zu einem Symbol der Klarheit, der Erhabenheit und der Grösse.