Vom Märchen zur Familienoper

Vom Märchen zur Familienoper
Rainer Karlitschek zu Humperdincks Hänsel und Gretel

Ein Märchen für die Familie
Seit der Uraufführung 1893 ist Humperdincks berühmteste Oper Hänsel und Gretel ungebrochen populär und über Generationen hinweg fast zu einem Synonym für den ersten familiären Opernbesuch geworden. Den Anstoss für die Komposition gab die Schwester des Komponisten, Adelheid Wette, die seit 1881 mit dem Arzt und Schriftsteller Hermann Wette verheiratet war. Sie dichtete ein Kinderspiel über das Märchen Hänsel und Gretel, für das sie von ihrem Bruder Engelbert ein paar Lieder erbat. Für den 34. Geburtstag ihres Mannes plante sie nämlich eine Familienaufführung, in der die acht- beziehungsweise siebenjährigen Töchter Isolde und Gudrun das Geschwisterpaar Hänsel und Gretel spielen sollten. Am 16. Mai 1890 wurde diese erste Version von Hänsel und Gretel im Kreise der Familie uraufgeführt und «bald war der Plan zu einem Märchenspiel fertig, dessen Ausarbeitung ich diesen Winter hindurch angelegen sein liess», so der Komponist in einem Brief an Cosima Wagner. 
Allein diese Anekdote über die ersten Ideen zu Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel liest sich wie ein trautes Familienidyll des 19. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund der gesamten Entstehungsgeschichte entpuppt sich diese als Teil einer ebenso geschickten wie erfolgreichen Werbestrategie.
Inzwischen geht man nämlich davon aus, dass der Komponist selbst diese Fassung nie gesehen hat, sich aber schon längere Zeit mit der Idee einer Märchenoper beschäftigt hatte. Schon als Student hatte er die Grimm’schen Hausmärchen begeistert gelesen. Und auch Cosima Wagner bestärkte ihn in seinem Vorhaben. Wie ihr verstorbener Mann vertrat sie die Ansicht, dass in den zahlreichen Volksmärchen, die im 19. Jahrhundert erstmals systematisch gesammelt und aufgeschrieben wurden, ein grosser Fundus an brauchbaren Opernstoffen liege. Vor dem Hintergrund dieser Ideen erschien Humperdinck das Spiel seiner Schwester sehr willkommen, und es fiel der Entschluss, das Stück zu einer kompletten Oper mit grosser Orchesterbesetzung auszuarbeiten. Bei der Um- und Ausarbeitung hin zur abendfüllenden Oper hingegen war der Schwager des Komponisten, Hermann Wette, die treibende Kraft und nicht zuletzt auch derjenige, der dem Text seine endgültige Form gab. Sein Anteil am Libretto ist den Quellen nach sogar viel höher einzuschätzen als der seiner Frau. Nach aussen hin wurde allerdings das Ideal des kreativen Geschwisterpaares Engelbert und Adelheid aufrechterhalten, weil es perfekt in das Familienbild der Zeit passte, ja sogar als Vermarktungsstrategie genutzt werden konnte. Die Mutter Humperdinck schlug beispielsweise vor, ihre Tochter möge den Erstdruck der Partitur doch unter ihrem Mädchennamen veröffentlichen. Und selbst der wichtigste Biograf Humperdincks – sein eigener Sohn Wolfram – erhält diesen Mythos der trauten geschwisterlichen Zusammenarbeit aufrecht. Im Libretto ist eine Vielzahl von Quellen verarbeitet. Natürlich liegt die Verbindung zur Grimm’schen Version des Märchens nahe. Humperdinck selbst wies allerdings darauf hin, auf Ludwig Bechsteins Deutsches Märchenbuch aus dem Jahre 1845 zurückgegriffen zu haben. Dies ist nicht verwunderlich,
erreichte doch diese Märchensammlung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eine weit grössere Auflage als die Grimm’schen Hausmärchen. Das Eröffnungslied der Oper, Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh, stammt ebenso wie der Abendsegen aus dem Anhang des Dritten Bandes der wichtigsten Sammlung von Volksweisen im 19. Jahrhundert: Achim von Arnims und Clemens Brentanos Des Knaben Wunderhorn von 1808. Das Rätsellied vom Männlein im Walde hingegen findet sich in der nicht minder bekannten Sammlung Fünfzig neue Kinderlieder von Hoffmann von Fallersleben, nach Original- und bekannten Weisen aus dem Jahre 1845.

Romantische Märchenbegeisterung
Der Erfolg der Oper war nicht zuletzt dieser Märchenbegeisterung im ausgehenden 19. Jahrhundert geschuldet, die als eine nach Sicherheit und Ordnung zielende Antwort auf die Verunsicherung durch die aufkommende Industrialisierung verstanden wurde. Ausgangspunkt dafür war die Veröffentlichung des ersten Bandes der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Jakob und Wilhelm Grimm am 20. Dezember 1812 gewesen. Diese hatten schon während ihres Studiums in Heidelberg aktiv an der Herausgabe von Achim von Arnims und Clemens Brentanos Des Knaben Wunderhorn mitgewirkt und widmeten sich anschliessend eigenständig der Sammlung von Volksmärchen. Im Gegensatz zu Arnim und Brentano verstanden sich die Brüder Grimm allerdings nicht als Dichter, sondern als wissenschaftliche Forscher, die auf zahlreiche mündlich und schriftlich überlieferte Quellen zurückgriffen und daraus ihre Vorstellung einer «Volkspoesie» formulierten: «In diesen Volks-Märchen liegt lauter urdeutscher Mythus, den man für
verloren gehalten.» Nach Auffassung der Brüder Grimm erhielten sich in den von ihnen gesammelten Märchen Spuren einer archaischen Urzeit, die noch immer zivilisatorische Kraft für die Gesellschaft ihrer Zeit entfalten konnten. Eine derartige gesellschaftliche Wirkung von Kunst sollte auch von Wagners Opern ausgehen. Humperdinck hat diese Idee in seiner Oper auf den Mikrokosmos Familie übertragen und anhand des Märchens Hänsel und Gretel auf der Bühne die Bedrohungen der Familie durch archaische und übersinnliche Mächte aufgezeigt.

Ritualisiertes Familienidyll
Dafür hat er bewusst auf Bechstein zurückgegriffen, dessen Version im Gegensatz zu den Brüdern Grimm das Märchen verbürgerlicht. Dennoch reisst es noch eine ganze Reihe von Motiven an, die in der Oper nicht mehr vorkommen. Die soziale Not wird bei Bechstein und Grimm weitaus drastischer dargestellt als auf der Opernbühne. Weil die Eltern ihre Kinder nicht mehr zu ernähren wissen, wollen sie diese einfach im Wald aussetzen, ihrem Schicksal überlassen und in letzter Konsequenz dem Tod preisgeben. Bei Grimm geschieht dies auf Drängen einer böswilligen Stiefmutter, die bei Bechstein zu einer leiblichen Mutter geworden ist, die aus purer Verzweiflung ihre Kinder in den Wald schickt. In der Oper dagegen werden Hänsel und Gretel von ihrer Mutter aus Wut aus dem Haus gejagt, zur Strafe für Faulheit und Ausgelassenheit. Sie ist sich über die Konsequenzen ihres Handelns nicht im Klaren. Als ihr Mann nach Hause kommt und ihr von der Hexe am Ilsenstein erzählt, plagt sie ihr schlechtes Gewissen. In der Oper wird den Eltern die Gefahr der Kinder sehr schnell bewusst, und sie machen sich auf die Suche nach ihnen. Im Märchen stehen der Wald und die Hexe allein für die existentielle Gefährdung und die Ängste der Kinder ohne Eltern in der Fremde, in der Oper hingegen für die Unsicherheit der gesamten Familie. Humperdinck hat diese Gefahr musikalisch im Vorspiel zum zweiten Bild, dem Hexenritt, verdeutlicht und zugleich aufgelöst, noch bevor sie in der Oper überhaupt gezeigt wird. Nach stampfenden Orchesterschlägen, dem sogenannten Besenmotiv, lädt sich die Spannung soweit auf, bis sie in einem anarchisch anmutenden, rhythmischen Staccatoklang mit wildem Schlagwerk ihren Höhepunkt erreicht: Becken, Tamtam, Tamburin und vor allem Kastagnetten zeichnen durch Rhythmus und eindringliche Klangfarben die anarchische Bedrohung der Hexe nach – erst langsam, dafür aber fanfarenartig intonieren die Trompeten erneut jenes Motiv, das bereits die Ouvertüre eröffnete. Im ersten Bild der Oper singt Gretel jenes Motiv zu dem Satz des Vaters: «Wenn die Not am höchsten steigt, Gott der Herr die Hand uns reicht.» Diese ruhige und feierliche Melodie, deren Kern eine grosse Sext umspielt, ist wie das Zitat eines Topos zu verstehen. Denn diese grosse Sext durchzieht die gesamte Kinderliederliteratur. Bereits Mozart hat sie in seiner Kinderliedervariation Ah vous dirais-je, Maman (KV 265) verwendet, und in der Weihnachtszeit ist sie jedem aus dem Liedanfang von Morgen kommt der Weihnachtsmann bekannt. Jenes Motiv führt auch im Hexenritt die entscheidende Wendung ein und siegt über die archaischen Besenrhythmen. Deutlicher lässt sich die Moral nicht formulieren, noch dazu, da das Motiv auch am Ende der Oper erneut aufgegriffen wird und eine eindeutige Antwort formuliert: Im naiven Gottvertrauen lässt sich jeglicher Gefahr begegnen.
Das Ende der Oper ist ein grosses, wirkungsvolles Schlussbild: Mit Hänsel und Gretel werden zahlreiche andere Kinder vom Hexenzauber kollektiv erlöst. Hier findet das Märchen eine weniger theatrale, aber poetischere Lösung: Mit den Worten «Perlen und Edelstein, für die Brotbröselein» werden die Kinder von den Vögeln für die Brotkrumen beschenkt, die sie eigentlich als Wegmarker ausgestreut hatten. Sie werden individuell
belohnt.
Die Opern-Version von Hänsel und Gretel erzählt zwar von der Bedrohung
der Familie durch feindliche, archaische Kräfte, triumphiert aber über diese und idealisiert somit den unerschütterlichen Wert dieser Gemeinschaft. Sie spiegelt damit zugleich die Sehnsüchte der Menschen nach Ursprünglichkeit, heiterer Ungebrochenheit und Unbeschwertheit sowie die Verbundenheit mit volkstümlichen Werten und Traditionen wider. Die moderne Märchenanalyse hat die Auffassung formuliert, dass das Märchen dazu da sei, die Fantasie anzuregen, die Verstandeskräfte zu entwickeln, die Emotionen zu klären und im ritualisierten Erzählen seine persönlichkeitsbildende Funktion zu entfalten. Dies gilt bei allen Unterschieden zu den Märchenvorlagen auch für die Oper. Und jedes Jahr in der Weihnachtszeit vollzieht sich dieses Ritual bei der Aufführung von Humperdincks Märchenoper.